DIE PRÜFUNG DES VOLLJÄHRIGEN JESUS IM TEMPEL

Kap.67

Der Tempel an einem Festtag. Menschen kommen und gehen durch die Tore der Umfassungsmauer, durchschreiten Vorhöfe, Innenhöfe und Säulengänge, um dann in diesem oder jenem Gebäude des Tempelkomplexes zu verschwinden. Auch die Reisegesellschaft, zu der die Familie Jesu gehört, kommt nun, andächtig Psalmen singend, an. Zuerst alle Männer, dann die Frauen.

Joseph trennt sich von der Gruppe, nachdem er mit den anderen an einem Ort den Allerhöchsten angebetet hat, zu dem nur die Männer Zutritt haben (die Frauen sind auf einer tieferen Terrasse stehengeblieben). Er geht mit Jesus durch die Höfe zurück, biegt seitlich ab und betritt einen großen Raum, der wie eine Synagoge aussieht. Er spricht mit einem Leviten, und dieser verschwindet hinter einem gestreiften Vorhang, um dann mit einigen alten Priestern zurückzukehren. Sicherlich sind es Lehrer der Gesetzeskunde, die die Aufgabe haben, die Gläubigen zu prüfen.

Joseph stellt Jesus vor. Zuerst haben sich beide tief vor den zehn Gelehrten, die würdig auf niedrigen Holzschemeln sitzen, verneigt. «Hier ist mein Sohn», sagt Joseph. «Seit drei Monaten und zwölf Tagen hat er das Alter, das das Gesetz für die Großjährigkeit vorschreibt. Ich wünsche aber, daß er auch nach den israelitischen Vorschriften volljährig sei. Ich bitte zu beachten, daß er auch im Aussehen zeigt, daß er die Kindheit und die Minderjährigkeit beendet hat. Ich bitte euch, gnädig und gerecht zu prüfen und zu beurteilen, ob das, was ich als Vater vorbringe, der Wahrheit entspricht. Ich habe ihn auf diese Stunde und für die Würde, ein Sohn des Gesetzes zu werden, vorbereitet. Er kennt die Gebote, die Überlieferungen, die Beschlüsse und das Brauchtum mit den Schnüren. Er kennt die täglichen Gebete und Segnungen. Er kann, da er das Gesetz als solches und in seinen Verzweigungen die Halacha, den Midrasch und die Haggada kennt, als Mann auftreten. Ich bitte daher, von der Verantwortung über seine Handlungen und Sünden entbunden zu werden. Von nun an soll er den Vorschriften unterworfen sein und für seine Nachlässigkeiten gegen das Gesetz selbst verantwortlich sein. Prüft ihn!»

«Das werden wir tun. Tritt näher, Knabe! Wie ist dein Name?»

«Jesus des Joseph von Nazareth.»

«Nazarener, kannst du lesen?»

«Ja, Rabbi. Ich kann die geschriebenen Wörter lesen und verstehe, was sie aussagen.»

«Was willst du damit sagen?»

«Ich will damit sagen, daß ich auch die Bedeutung der Sinnbilder oder Symbole verstehe, die sich unter dem Äußeren verbirgt, wie sich die Perle in der rohen, verschlossenen Muschel versteckt.»

«Eine ungewöhnliche und sehr weise Antwort! Selten hört man so etwas von den Lippen Erwachsener, erst recht nicht von denen eines Knaben, und noch dazu eines Nazareners.»

Die Aufmerksamkeit der Zehn erwacht. Sie wenden ihre Augen nicht mehr von dem schönen blonden Knaben ab, der sie so sicher, so unbefangen und furchtlos anblickt.

«Du machst deinem Lehrer, der gewiß sehr gelehrt war, Ehre.»

«Die Weisheit Gottes hat sich in seinem gerechten Herzen niedergelassen.»

«Du Glücklicher, Vater eines solchen Sohnes!»

Joseph, im Hintergrund des Saales, verneigt sich und lächelt.

Sie geben Jesus drei verschiedene Schriftrollen und sagen: «Lies jene, die mit dem goldenen Band verschlossen ist.»

Jesus öffnet die Rolle und liest. Es sind die Zehn Gebote. Doch nach den ersten Worten nimmt ihm ein Richter die Rolle aus der Hand und sagt: «Fahre aus dem Gedächtnis fort.» Jesus fährt fort, so sicher, als ob er ablese. Jedesmal, wenn er den Namen des Herrn nennt, verneigt er sich tief.

«Wer hat dich das gelehrt? Warum tust du das?»

«Weil dieser Name heilig ist und mit einem inneren und äußeren Zeichen der Ehrfurcht ausgesprochen werden muß. Vor dem König, der nur für kurze Zeit König ist, verneigen sich die Untertanen; und doch ist er nur Staub. Sollte sich da nicht vor dem König der Könige, dem allerhöchsten Herrn Israels, der gegenwärtig, wenn auch nur dem Geist sichtbar ist, ein jedes Geschöpf verbeugen, das Ihm für die ganze Ewigkeit untertan ist?»

«Bravo! Mann, wir raten dir, laß deinen Sohn von Hillel oder Gamaliel unterrichten. Er ist zwar ein Nazarener, doch seine Antworten lassen hoffen, daß er ein neuer großer Lehrer werden wird.»

«Der Sohn ist volljährig. Er kann tun, was er will. Ich werde ihm nichts in den Weg legen, wenn das, was er will, ehrenhaft ist.»

«Knabe, höre! Du hast gesagt: "Vergiß nicht, die Feiertage zu heiligen!

Das gilt nicht nur für dich, sondern auch für deinen Sohn, deine Tochter, deinen Knecht, deine Magd und selbst für dein Zugtier. Allen ist es verboten, am Sabbat zu arbeiten!" Nun sage mir: Wenn eine Henne am Sabbat ein Ei legt oder ein Schaf ein Junges bekommt, ist es dann erlaubt, diese Leibesfrucht zu verwenden oder ist sie als Schandtat anzusehen?»

«Ich weiß, daß viele Rabbis und auch der lebende Schammai sagen, daß das am Sabbat gelegte Ei gesetzwidrig sei. Doch ich denke, daß der Mensch etwas anderes ist als das Tier oder als der tierische Akt des Gebärens. Wenn ich das Tier verpflichte, am Sabbat zu arbeiten, dann begehe auch ich seine Sünde; denn ich zwinge es mit der Peitsche zur Arbeit. Aber wenn ein Huhn ein Ei legt, das im Eierstock herangereift ist oder ein Schaf am Sabbat ein Junges wirft, dann ist ein solches Ereignis keine Sünde. Darum sind in den Augen Gottes das Ei und das Lämmlein, die am Sabbat ans Licht treten, keine Sünde.»

«Wieso das, wenn doch eine jede Arbeit am Sabbat Sünde ist?»

«Weil Empfangen und Gebären vom Willen des Schöpfers abhängen und geregelt werden durch das von ihm in jedes Geschöpf gelegte Gesetz. So gehorcht die Henne nur diesem Gesetz, das sagt, nach so und soviel Stunden ist das Ei bereit und muß gelegt werden. Und auch das Lamm gehorcht nur dem Gesetz, das der gegeben hat, der alles erschaffen und auch festgelegt hat, daß zweimal im Jahre – wenn der Frühling auf den blühenden Wiesen lacht und wenn der Wald sich entblättert und die Kälte die Brust des Menschen schnürt – die Schafe zu ihren Böcken gehen, um dann zu gegebener Zeit Milch, Fleisch und nahrhaften Käse zu liefern für die Monate der harten Mühsal der Ernte oder der wachsenden Not der Kältezeit. Wenn also ein Schaf zu seiner Zeit ein Junges wirft, so kann dieses sogar auf dem Altar als Opfer heilig sein, weil es die Frucht des Gehorsams dem Schöpfer gegenüber ist.»

«Ich werde nicht weiter fragen. Seine Weisheit übersteigt die der Erwachsenen und ist erstaunlich.»

«Nein. Er hat behauptet, auch die Symbole erklären zu können. Hören wir ihn an!»

«Sag zuerst einen Psalm, die Segnungen und die Gebete!»

«Auch die Gebote!»

«Ja, auch die Midraschot!»

Jesus sagt mit großer Sicherheit eine ganze Litanei von Vorschriften auf... «das darfst du nicht... das unterlasse...» Wenn wir noch all diese Einschränkungen hätten, rebellisch wie wir sind, so versichere ich euch, daß niemand gerettet würde...

«Genug! Öffne nun die Schriftrolle mit dem grünen Band!»

Jesus öffnet sie und will mit der Lesung beginnen.

«Weiter vorne... noch weiter...»

Jesus gehorcht.

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«Lies und erkläre, was dies bedeutet, wenn dir scheint, daß hier ein Symbol vorliege!»

«Im Wort Gottes fehlt es selten. Wir sind es, die nicht imstande sind, es zu sehen und anzuwenden. Ich lese im zweiten Buch der Könige Kap. 22, Vers 10: "Schaphan, der Schreiber, sagte in seinem Bericht an den König: 'Der Hohepriester Hilkia hat mir eine Rolle gegeben.' Als Schaphan es in der Gegenwart des Königs gelesen hatte, zerriß der König, nachdem er die Worte des Gesetzes Gottes gehört hatte, seine Kleider und gab..."»

«Überschlage die Namen...»

«"... folgende Anordnung: 'Geht und fragt den Herrn für mich, für das Volk, für ganz Judäa über die Worte dieses Buches! Der große Zorn Gottes ist gegen uns entbrannt, weil unsere Väter die Worte dieses Buches nicht angehört haben und seine Vorschriften nicht befolgt haben»

«Genug. Dies hat sich vor mehreren Jahrhunderten zugetragen. Welches Symbol siehst du in diesem Vorkommnis der alten Chronik?»

«Ich finde, daß es keine Zeit für das gibt, was ewig ist. Gott ist ewig, unsere Seele ist ewig, ewig sind die Verbindungen zwischen Gott und der Seele. Was also vor langer Zeit die Strafe ausgelöst hat, ruft sie auch heute hervor, und so sind auch die Folgen der Sünde die gleichen.»

«Und weiter.»

«Israel besitzt die Weisheit nicht mehr, die von Gott kommt. Ihn, nicht die armen Menschen muß man um Erleuchtung bitten. Und diese Erleuchtung erhält man nicht, wenn man Gott gegenüber untreu und ungerecht ist. So wird gesündigt, und Gott straft in seinem Zorn.»

«Wir sollten die Weisheit nicht mehr kennen? Was sagst du da, Knabe? Und die sechshundertdreizehn Vorschriften?»

«Die Vorschriften sind da; aber es sind nur mehr Wörter. Wir kennen sie, doch wir befolgen sie nicht. Daher kennen wir sie nicht. Das Symbol bedeutet: jeder Mensch, jede Zeit muß den Herrn befragen, um seinen Willen zu erkennen und sich an ihn zu halten, um nicht seinen Zorn herauszufordern.»

«Der Knabe ist vollkommen. Nicht einmal die Schlinge der verfänglichen Frage hat ihn verwirrt. Er soll in die wahre Synagoge eingeführt werden.»

Gemeinsam gehen sie in einen größeren Raum. Hier kürzen sie ihm zuerst einmal die Haare. Joseph nimmt die Locken an sich. Dann umgürten sie sein rotes Gewand mit einem langen Gürtel, den sie mehrmals um seine Taille winden. Sie legen ihm Streifen an die Stirne, an den Arm und an den Mantel, und befestigen diese mit einer Art Spangen. Darauf singen sie Psalmen, und Joseph lobt den Herrn mit einem langen Gebet und erbittet alles Gute für den Sohn.

Die Zeremonie ist beendet und Jesus geht mit Joseph fort. Auf dem Rückweg treffen sie mit den männlichen Verwandten zusammen. Sie kaufen und opfern ein Lamm. Dann begeben sie sich mit dem geschlachteten Opfer zu den Frauen.

Maria küßt ihren Jesus. Ihr ist, als habe sie ihn seit Jahren nicht mehr gesehen. Sie schaut ihn an, der nun mit dem veränderten Kleid und den geschnittenen Haaren wie ein Mann aussieht. Sie liebkost ihn. Sie gehen hinaus.

 

 

 

 

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