BEGEGNUNG MIT JOHANNES UND JAKOBUS

Kap.79

Dem Text des Johannesevangeliums entsprechend folgen zwei Jünger Jesus einen Tag nach seiner Taufe am Jordan: Am Tag darauf stand Johannes wieder dort, und zwei seiner Jünger standen bei ihm. Als Jesus vorüberging, richtete Johannes seinen Blick auf ihn und sagte: Seht, das Lamm Gottes! Die beiden Jünger hörten, was er sagte, und folgten Jesus (Joh 1,35-37). Die Darstellung Valtortas hingegen stimmt mit der Chronologie der synoptischen Evangelien überein: Jesus fastet 40 Tage in der Wüste (Mt 4,2; Mk 1,13; Lk 4,1); Johannes der Täufer wird von Herodes verhaftet (Mt 4,12; Mk 1,14; Lk 3,20). Wie erklärt sich die Unstimmigkeit im Johannesevangelium? Man darf als wahrheitsgemäß annehmen, daß die beiden genannten Jünger nicht bei der Taufe Jesu zugegen waren. Daher werden die Worte "Seht, das Lamm Gottes" sinnvollerweise wiederholt. Johannes führt diesen Hinweis gewissermaßen weiter, indem er bei Valtorta Jesus mit der Anrede "Lamm Gottes" auf sich aufmerksam macht. Was der Leser des Johannesevangeliums nicht wissen kann, ist, daß das Bindewort und einen Zeitraum von mehr als 40 Tagen zusammenrafft. Johannes verzichtet also auf einen vermittelnden Zwischentext und erzeugt so die Wirkung einer spontanen und bedingungslosen Nachfolge Jesu. Er unterscheidet sich damit von anderen Jüngern des Täufers, die bei diesem bleiben. Die zeitliche Zusammenraffung deutet somit darauf hin, daß Johannes als einer der beiden Jünger des Täufers von Anfang an die Bereitschaft verspürte, ein Jünger des Messias zu werden.

Die Mißverständlichkeit der Textstelle veranlaßt Jesus bei Valtorta zu einem klärenden Kommentar in Kap.80: (...) Ihr müßt so lesen: "Als mich (nach der nunmehr erfolgten Verhaftung des Johannes) die beiden Jünger des Täufers wiedersahen, denen er bezeugt hatte: 'Hier ist das Lamm Gottes', riefen sie mich und folgten mir nach meiner Rückkehr aus der Wüste."

Ich sehe Jesus auf dem schmalen grünen Pfad längs des Jordan dahinschreiten. Er ist in der Nähe des Ortes, wo er getauft worden ist, und zwar beim Flußübergang, der sehr bekannt zu sein scheint und von vielen zum Überqueren benützt wird. Doch der Ort, den ich noch vor kurzem voller Leute gesehen habe, erscheint nun menschenleer. Nur einige Wanderer, zu Fuß oder auf einem Reittier, sind zu sehen.

Jesus scheint in Gedanken versunken und schreitet nach Norden weiter. Bei der Furt angekommen, begegnet er einer Gruppe von Männern verschiedenen Alters, die eifrig miteinander diskutieren und sich dann trennen, die einen schreiten in nördlicher, die anderen in südlicher Richtung weiter. Unter denen, welche sich nach Norden wenden, sehe ich Johannes und Jakobus. Johannes bemerkt Jesus zuerst und macht seinen Bruder auf ihn aufmerksam. Sie reden noch etwas miteinander, dann beeilt sich Johannes, Jesus einzuholen. Jakobus folgt langsam. Die anderen achten nicht darauf und gehen diskutierend weiter.

Als Johannes Jesus bis auf zwei oder drei Meter eingeholt hat, ruft er: «Lamm Gottes, das du hinwegnimmst die Sünden der Welt!»

Jesus wendet sich um und schaut ihn an. Sie stehen sich nun gegenüber und betrachten sich. Jesus tut dies ernst und eindringlich; Johannes mit reinen Augen und einem Lächeln im kindlichen Gesicht, das beinahe mädchenhaft wirkt. Er dürfte ungefähr 2O Jahre alt sein, und auf den rosigen Wangen ist nur ein leichter, blonder Flaum, der wie ein goldener Schleier aussieht.

Jesus fragt: «Wen suchst du?» «Dich, Meister.» «Woher weißt du, daß ich Meister bin?» «Der Täufer hat es mir gesagt.»«Warum nennst du mich Lamm?»

«Ich hörte Johannes dich so nennen. Es war vor ungefähr einem Monat, als du hierhergekommen bist.»

«Was willst du von mir?»«Daß du uns Worte des ewigen Lebens verkündest und uns tröstest.» «Wer bist du?»

«Ich bin Johannes, Sohn des Zebedäus, und dies ist mein Bruder, Jakobus. Wir sind aus Galiläa und Fischer. Wir sind jedoch auch Jünger des Johannes des Täufers. Er verkündete uns Worte des Lebens, und wir nahmen sie in unser Herz auf, da wir Gott folgen wollen und unsere Herzen durch Buße auf die Ankunft des Messias vorbereiten, um Vergebung zu erlangen. Du bist der Messias. Johannes hat es uns gesagt; denn er hat das Zeichen der Taube gesehen, die sich auf dich niedergelassen hat. Er sagte zu uns: "Seht das Lamm Gottes!" Ich bitte dich, Lamm Gottes, das du hinwegnimmst die Sünden der Welt, gib uns den Frieden! Wir haben nämlich niemanden mehr, der uns leitet, und unsere Seele ist betrübt.»

«Wo ist Johannes?»

«Herodes hat ihn gefangennehmen lassen. Nun befindet er sich im Gefängnis. Seine Getreuen haben versucht, ihn zu befreien. Doch es ist unmöglich. Wir kommen gerade von dort. Laß uns mit dir gehen, Meister, zeige uns, wo du wohnst!»

«Kommt mit! Doch wißt ihr, um was ihr bittet? Wer mir nachfolgen will, muß auf alles verzichten: auf Haus, Verwandte, seine Art zu denken und selbst das Leben. Ich werde euch zu meinen Jüngern und Freunden machen, wenn ihr wollt. Doch habe ich keine Reichtümer oder Gönner. Ich bin arm und werde noch ärmer werden, bis ich nichts mehr habe, um mein Haupt darauf zu legen. Und ich werde verfolgt werden, mehr als ein verirrtes Lamm von hungrigen Wölfen verfolgt wird. Meine Lehre ist noch strenger als die Lehre des Täufers, da sie sogar verbietet, nachtragend zu sein. Meine Lehre richtet sich mehr an die Seele als an das Äußere. Ihr müßt wiedergeboren werden, wenn ihr mir gehören wollt. Wollt ihr das?»

«Ja, Meister, denn du allein hast Worte, die uns Licht geben. Sie erleuchten uns, und wo zuerst finstere Trostlosigkeit herrschte, weil wir ohne Führung waren, erfüllen sie uns mit Sonnenlicht.»

«Kommt also, und gehen wir! Unterwegs werde ich euch belehren.»

 

«ICH LIEBTE JOHANNES WEGEN SEINER REINHEIT»

Kap.80

Jesus spricht:

«Die Gruppe, der ich begegnete, war nicht klein; doch nur einer davon erkannte mich, weil seine Seele, sein Geist und Leib frei von Makel waren.

Ich bestehe auf dem Wert der Reinheit. Die Keuschheit ist immer die Quelle der Reinheit der Gedanken. (...)

Gewollte Jungfräulichkeit üben die, die sich Gott mit der ganzen Hingabe ihres Herzens weihen. Doch nicht alle verbleiben in dieser Reinheit der Lilie, die aufrecht auf ihrem Stengel steht, der zum Himmel strebt, ungeachtet eines schmutzigen Erdreiches, und sich öffnet zum Kuß der Sonne Gottes mit ihrem himmlischen Tau.

Viele bleiben nur äußerlich treu; in Gedanken sind sie untreu, weil sie bedauern und zurücknehmen möchten, was sie geopfert haben. Diese sind nur zur Hälfte jungfräulich. Wenn auch das Fleisch unberührt ist, das Herz ist es nicht. Dieses Herz gärt, rebelliert, versprüht Sinnlichkeit, die um so raffinierter und schlimmer ist, als sie fortwährend Vorstellungen nährt, die für jemand, der ungebunden ist, verboten und um so verwerflicher für solche sind, die Gott ein Gelübde abgelegt haben.

Es kommt zur Heuchelei des Gelübdes. Der Schein ist vorhanden, doch die Substanz fehlt. Wahrlich, ich sage euch, ich nenne "jungfräulich" jemanden, der zu mir kommt mit einer durch brutale Vergewaltigung verwüsteten Lilie, aber nicht solche, deren Lilie körperlich intakt ist, jedoch beschmutzt durch Sinnlichkeit in einsamen Stunden. Dem ersteren gebe ich den Kranz der Jungfräulichkeit und die Krone des Martyriums wegen des infolge einer von ihm nicht gewollten Verstümmelung verwundeten Fleisches und gemarterten Herzens. (...)

Die Welt verachtet die Reinen, und die Unkeuschen quälen sie. Johannes der Täufer ist das Opfer der Unzucht zweier Unzüchtiger. Aber wenn die Welt noch ein wenig Licht hat, so verdankt sie dies den Reinen. Sie sind die Diener Gottes und können Gott verstehen und Gottes Worte wiedergeben. Ich habe gesagt: "Selig, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen." Auch auf der Erde können sie Gott sehen, ihn hören, ihm nachfolgen und ihn den anderen zeigen, da ihre Gedanken nicht durch den Nebel der Sinne getrübt sind.

Johannes, Sohn des Zebedäus, ist ein Reiner – der Reine unter meinen Jüngern. Welch blütenreine Seele in einem engelhaften Körper! Er ruft mich mit den Worten seines ersten Lehrers und bittet mich, ihm meinen Frieden zu schenken. Doch er hat den Frieden in sich durch sein reines Leben. Und ich habe ihn geliebt dieser seiner Reinheit wegen, und daher habe ich ihm meine Lehren, meine Geheimnisse und das Geschöpf, das mir am teuersten war, anvertraut. (...)

 

 

 

 

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