Jesus und die Samariterin am
Jakobsbrunnen
aus Kap.182: November, 2. Lehrjahr, Frühjahr
«Ich bleibe hier. Geht in die Stadt
und kauft, was wir für die Mahlzeit benötigen. Wir werden hier essen.»
«Sollen wir alle
gehen?»
«Ja, Johannes. Es
ist gut, wenn ihr alle miteinander geht.»
«Du bleibst allein?
... Es sind Samariter...»
«Sie werden nicht die
Schlimmsten unter den Feinden Christi sein. Geht, geht nur. Während ich hier
auf euch warte, will ich für euch und für sie beten.»
Die Jünger gehen
schweren Herzens davon; drei- oder viermal drehen sie sich nach Jesus um und
betrachten ihn, wie er auf einem kleinen, sonnenbeschienenen Mäuerchen sitzt,
das sich in der Nähe des breiten, niedrigen Randes eines Brunnens befindet;
eines großen Brunnens, fast einer Zisterne gleich, so breit ist er. Im Sommer
ist er von den großen, jetzt kahlen, Bäumen beschattet. Das Wasser des Brunnens
kann man nicht sehen, doch zeigen kleine Pfützen und Abdrücke der abgestellten
Krüge auf dem Erdboden rundherum, daß Wasser geschöpft worden ist. Jesus ist in
seine Gedanken vertieft. Er hat die gewohnte Haltung angenommen: die Ellbogen
auf die Knie gestützt und die nach vorne gerichteten Hände gefaltet, den
Oberkörper leicht gebeugt und das Haupt zur Erde geneigt. Er spürt die wärmende
Sonne und läßt den Mantel vom Kopf und den Schultern gleiten, hält ihn aber
noch zusammengefaltet auf seinem Schoß.
Jesus hebt das Haupt
und lächelt einer Schar rauflustiger Spatzen zu, die sich um eine am Brunnen
verlorene Brotkrume streiten. Doch die Spatzen werden durch das Erscheinen
einer Frau aufgeschreckt und fliegen davon. Die Frau hält mit der linken Hand
einen leeren Krug am Henkel, während sie mit der rechten überrascht den
Schleier zur Seite schiebt, um zu sehen, wer der Mann ist, der dort sitzt.
Jesus lächelt der Frau zu, die um die 35-4O Jahre alt und hochgewachsen ist und
markante, doch schöne Gesichtszüge hat. Ein Menschenschlag, den wir als
spanisch bezeichnen möchten, wegen ihrer fahlen, olivfarbenen Haut, den
gewölbten und leuchtenden Lippen, ihren geradezu übermäßig großen und schwarzen
Augen unter den sehr dichten Augenbrauen und den rabenschwarzen Zöpfen, die
durch den leichten Schleier hindurchscheinen. Auch die etwas üppigen
Körperformen sind typisch orientalisch, wie bei den Araberinnen. Die Frau trägt
ein buntgestreiftes Kleid, welches in der Taille eng zusammengezogen ist und an
den molligen Hüften und der vollen Brust enganliegt und dann in einer Art loser
Falten bis zum Boden reicht. Viele Ringe und Armbänder schmücken ihre
fleischigen, braunen Hände, und unter den leinenen Unterärmeln kommen ihre mit
Armbändern geschmückten Handgelenke hervor. Am Halse trägt sie eine schwere
Kette, von der Medaillen, ich möchte fast sagen Amulette, da sie so
verschiedenförmig sind, herabhängen, während der reiche Ohrschmuck bis zum
Halse reicht und unter dem Schleier glitzert.
«Der Friede sei mit
dir, Frau. Willst du mir zu trinken geben? Ich habe einen weiten Weg hinter mir
und bin durstig.»
«Aber bist du denn
nicht ein Jude? Und du bittest mich, eine Samariterin, um Wasser? Was soll denn
das bedeuten? Ist unsere Ehre wieder hergestellt, oder seid ihr gar in Verfall
geraten? Es muß schon ein großes Ereignis stattgefunden haben, wenn ein Jude
höflich zu einer Samariterin spricht. Eigentlich sollte ich dir antworten:
"Ich gebe dir nichts, um an dir alle Beleidigungen zu rächen, die uns die
Juden seit Jahrhunderten zufügen."»
«Du hast recht.
Etwas Großes hat sich ereignet, und dadurch haben sich viele Dinge geändert,
und mehr noch werden sich ändern. Gott hat der Welt ein großes Geschenk gemacht
und dadurch hat sich vieles geändert. Wenn du dieses Geschenk kennen würdest
und wüßtest, wer zu dir sagt: "Gib mir zu trinken" ' dann hättest du
ihn vielleicht selbst um Wasser gebeten, und er hätte dir lebendiges Wasser
gegeben.»
«Lebendiges Wasser
gibt es in unterirdischen Quellen. In diesem Brunnen ist solches, doch er
gehört uns», entgegnet die Frau spöttisch und rechthaberisch.
«Das Wasser kommt
von Gott, so wie auch die Güte, das Leben und alles von einem einzigen Gott
kommt, Frau. Alle Menschen sind von Gott erschaffen worden: Samariter wie
Juden. Ist dies nicht der Brunnen Jakobs, und ist Jakob nicht der Stammvater
unseres Geschlechtes? 1) Wenn später ein Irrtum das Volk geteilt hat, so bleibt
der Ursprung doch derselbe.»
«Ein Irrtum
unsererseits, nicht wahr?» fragt die Frau herausfordernd.
«Weder unsererseits
noch eurerseits. Es war der Fehler eines Menschen, der Liebe und Gerechtigkeit
aus den Augen verloren hatte. Ich beleidige weder dich noch dein Geschlecht,
warum verhältst du dich also feindselig mir gegenüber?»
«Du bist der erste
Jude, den ich so reden höre. Die anderen... Der Brunnen, ja, es ist der Brunnen
Jakobs, und er hat so reichlich klares Wasser, daß wir von Sichar ihn allen
anderen Brunnen vorziehen. Doch er ist sehr tief, und du hast weder Krug noch
einen Schlauch. Wie könntest du für mich lebendiges Wasser schöpfen? Bist du
vielleicht mehr als Jakob, unser heiliger Patriarch, der diese reiche Quelle
für sich, seine Kinder und seine Herden gefunden und sie uns als Geschenk und
zu seinem Gedächtnis hinterlassen hat?»
«Das stimmt! Doch
wer von diesem Wasser trinkt, wird wieder Durst bekommen. Ich hingegen habe ein
Wasser, das bei dem, der es trinkt, keinen Durst mehr aufkommen läßt. Doch es
gehört mir allein. Und ich werde es denen geben, die mich darum bitten.
Wahrlich, ich sage dir, wer dieses Wasser besitzt, das ich ihm geben werde,
wird immer von ihm durchströmt werden und nie mehr Durst leiden, weil mein
Wasser in ihm zur sicheren ewigen Quelle werden wird.»
«Wie? Ich verstehe
dich nicht. Bist du ein Magier? Wie kann ein Mensch zu einem Brunnen werden?
Das Kamel trinkt und schafft sich Wasservorräte in seinem geräumigen Bauch.
Doch dann verbraucht es das Wasser und es genügt nicht für das ganze Leben. Du
aber sagst, daß dein Wasser für das ganze Leben reicht?»
«Mehr noch: es wird
bis zum ewigen Leben fließen. Es wird in denen, die es getrunken haben, bis zum
ewigen Leben fließen und aus ihm wird ewiges Leben sprießen, weil es eine
Quelle des Heils ist.»
«Gib mir von diesem
Wasser, wenn du es wirklich besitzest. Es ermüdet mich, bis hierher zu kommen.
Ich werde so keinen Durst mehr haben und werde nie krank oder alt werden.»
«Nur das ermüdet
dich? Nichts anderes? Hast du nur das Bedürfnis, für deinen armseligen Leib von
diesem Wasser zu schöpfen? Überlege, es gibt etwas, das mehr wert ist als der
Körper. Es ist die Seele. Jakob gab sich und den Seinen nicht nur das Wasser
dieser Erde, sondern er war auch darum besorgt, sich und den anderen die
Heiligkeit, nämlich das Wasser Gottes, zu vermitteln.»
«Ihr nennt uns
Heiden... Wenn das, was ihr sagt, wahr ist, dann können wir nicht heilig
sein...» Die Frau hat den unverschämten, ironischen Ton in der Stimme verloren
und zeigt sich nun unterwürfig und leicht verwirrt.
«Auch ein Heide kann
tugendhaft sein, und Gott, der gerecht ist, wird ihn für seine guten Werke
belohnen. Es wird keine vollkommene Belohnung sein, doch kann ich dir sagen,
daß Gott auf einen Heiden ohne Schuld mit weniger Strenge blickt als auf einen
Gläubigen in schwerer Schuld. Warum kommt ihr also nicht zum wahren Gott, wenn ihr
doch wißt, daß ihr ohne Schuld seid? Wie heißest du?»
«Fotinai.»
«Gut, Fotinai,
antworte mir. Schmerzt es dich, daß du nicht zur Heiligkeit streben kannst,
weil du, wie du sagst, Heidin bist, weil du, wie ich behaupte, noch immer von
den Nebeln eines alten Irrtums umgeben bist?»
«Ja, es schmerzt
mich.»
«Warum lebst du dann
nicht wenigstens als tugendhafte Heidin?»
«Herr! ...»
«Ja. Kannst du es
leugnen? Hole deinen Mann und komme mit ihm hierher zurück.»
«Ich habe keinen
Gatten...» Die Frau wird immer verwirrter.
«Das stimmt, du hast
keinen Gatten. Fünf Männer hast du gehabt, und nun hast du einen bei dir, der
nicht dein Mann ist. War dies nötig? Auch deine Religion rät nicht zur Unzucht.
Auch ihr habt die zehn Gebote. Warum also führst du ein solches Leben, Fotinai?
Belastet es dich nicht, allen zu gehören, anstatt die ehrsame Gattin eines
Einzigen zu sein? Fürchtest du nicht deinen Lebensabend, an dem du allein mit
deinen schmerzlichen Erinnerungen sein wirst, mit deinen Ängsten, mit deinem
Bedauern? Ja, auch mit diesem. Angst vor Gott und den Schreckensbildern! Wo
sind deine Kinder?»
Die Frau senkt ihr
Haupt tief und schweigt.
«Du hast sie nicht
auf dieser Erde, aber ihre kleinen Seelen, denen du es verwehrt hast, das Licht
der Welt zu erblicken, werden dich ohne Unterlaß anklagen. Schmuck, schöne
Kleider... ein prächtiges Haus... eine reichhaltige Tafel... Ja! Aber daneben
Leere, Tränen und innere Trostlosigkeit. Du bist ein unglücklicher Mensch,
Fotinai. Nur durch aufrichtige Reue, die Vergebung Gottes und mit ihr auch die
Verzeihung deiner Geschöpfe kannst du wieder reich werden.»
«Herr, ich sehe, daß
du ein Prophet bist, und ich schäme mich...»
«Doch vor dem Vater
im Himmel hast du dich nicht geschämt, als du Böses tatest ? Weine nicht aus
Beschämung vor dem Menschen... Komm her, neben mich, Fotinai, ich werde dir von
Gott erzählen. Vielleicht wußtest du zu wenig von ihm, und sicherlich hast du
deshalb so viele Fehler begangen. Wenn du den wahren Gott gekannt hättest, dann
hättest du dich nicht so entwürdigt. Er hätte dir zugesprochen und dir
geholfen...»
«Herr, unsere Väter
haben auf diesem Berge angebetet. Ihr sagt, daß man nur in Jerusalem anbeten
soll. Doch du sagst, es gibt nur einen Gott. Hilf mir zu verstehen, wo und wie
ich es tun soll...»
«Frau, glaube mir.
Es naht die Stunde, da man den Vater weder auf dem Berge von Samaria noch in
Jerusalem anbeten wird. Ihr betet den an, den ihr nicht kennt. Wir beten den
an, den wir kennen, denn das Heil geht aus den Juden hervor. Erinnerst du dich
an die Worte der Propheten? Doch es kommt die Stunde, vielmehr, sie hat schon
begonnen, da die wahren Verehrer Gottes den Vater im Geiste und in der Wahrheit
anbeten werden, und zwar nicht im alten, sondern nach einem neuen Ritus, bei
dem es keine Opfertiere mehr geben wird, sondern das ewige Opfer, die sich im
Feuer der Liebe verzehrende, unversehrte Opfergabe. Die Verehrung Gottes wird
sich in diesem geistigen Reich in geistiger Weise vollziehen und von denen
verstanden werden, welche fähig sind, Gott im Geist und in der Wahrheit
anzubeten. Gott ist Geist. Wer ihn anbetet, muß ihn in geistiger Weise
anbeten.»
«Du sprichst heilige
Worte. Ich weiß, denn auch wir wissen einiges, daß die Ankunft des Messias
bevorsteht. Er wird auch "Christus" genannt. Er wird uns alles
lehren, wenn er da ist. Hier in der Nähe lebt jener, den sie seinen Vorläufer
nennen, und viele gehen zu ihm, um ihn anzuhören. Aber er ist so streng! ... Du
bist gütig... und die armseligen Menschen fürchten dich nicht. Ich glaube, daß
Christus gütig sein wird. Sie nennen ihn den Friedensfürst. Werden wir noch
lange auf ihn warten müssen?»
«Ich habe dir
gesagt, daß seine Zeit schon da ist.»
«Wie kannst du das
wissen? Bist du vielleicht sein Jünger? Der Vorläufer hat viele Jünger. Auch
Christus wird sie haben.»
«Ich, der ich zu dir
spreche, bin Christus Jesus.»
«Du! ... Oh! ...»
Die Frau, die sich neben Jesus niedergelassen hatte, springt auf und will
fliehen.
«Warum fliehst du,
Frau?»
«Weil ich davor
erschauere, bei dir zu verweilen. Du bist heilig...»
«Ich bin der Retter.
Ich bin hierhergekommen – aus freiem Willen -da ich wußte, daß deine Seele des
Umherirrens müde ist. Deine "Speise" ekelt dich an... Ich bin
gekommen, dir eine neue Speise zu geben, die Ekel und Überdruß von dir nehmen
wird... Da kommen meine Jünger, die Brot für mich geholt haben. Doch ich bin
schon gesättigt, da ich dir die ersten Brosamen deiner Erlösung geben konnte.»
Die Jünger werfen
der Frau mehr oder weniger diskrete, verstohlene Blicke zu, doch keiner sagt
ein Wort. Sie geht davon, ohne weiter an das Wasser und den Krug zu denken.
«Hier sind wir,
Meister», sagt Petrus. «Sie haben uns gut behandelt. Da sind Käse, frisches
Brot, Oliven und Äpfel. Nimm, was du willst. Die Frau hat gut daran getan, den
Krug zurückzulassen. Damit wird es schneller gehen als mit unseren kleinen
Wasserbeuteln. Zuerst trinken wir, und dann füllen wir sie auf. So brauchen wir
die Samariter um nichts anderes zu bitten, nicht einmal darum, zu ihren Brunnen
gehen zu dürfen. Ißt du nicht? Ich wollte Fisch für dich kaufen, habe aber
keinen gefunden. Vielleicht hättest du ihn vorgezogen. Du bist müde und
bleich,»
«Ich habe eine
Speise, die ihr nicht kennt. Sie wird mir als Nahrung dienen und mich sehr
erquicken.»
Die Jünger schauen
sich fragend an.
Jesus antwortet auf
ihr stummes Fragen: «Meine Speise ist es, den Willen dessen zu tun, der mich
gesandt hat, und das Werk zu Ende zu führen, von dem er wünscht, daß ich es
vollende. Wenn ein Sämann den Samen ausgestreut hat, kann er dann behaupten, er
hätte schon alles getan, um sagen zu können, er hätte geerntet? Nein. Wieviel
bleibt ihm noch zu tun, bis er sagen kann: "Nun ist meine Arbeit
vollbracht!" Bis zu jener Stunde kann er nicht ausruhen. Betrachtet diese
kleinen Äcker unter der heiteren Sonne der sechsten Stunde. Noch vor einem
Monat, vor weniger als einem Monat, war die Erde kahl und dunkel, weil sie vom
Regen getränkt war. Nun seht! Halme über Halme des kaum hervorgesprossenen
Getreides, die von zartem Grün sind und im grellen Licht noch heller
erscheinen, bedecken den Boden wie ein weißlicher leichter Schleier. Dies ist
die zukünftige Ernte, und ihr sagt, wenn ihr sie seht: "In vier Monaten
ist Erntezeit. Die Sämänner werden die Schnitter rufen, denn wenn auch nur
einer für die Aussaat genügt, so braucht es doch viele zum Ernten. Die einen
wie die anderen sind zufrieden: der eine, der einen kleinen Sack Körner
ausgesät hat und nun die Kornkammern vorbereiten muß, um sie aufzunehmen, und
die anderen, die sich in wenigen Tagen den Lebensunterhalt für einige Monate
verdienen." Auch im Acker des Geistes werden jene, die das ernten, was ich
gesät habe, sich mit mir und wie ich freuen, denn ich werde ihnen den Lohn und
den gebührenden Anteil an der Ernte geben. Ich werde ihnen geben, was sie für
das Leben in meinem ewigen Reich nötig haben. Ihr braucht nur zu ernten. Die
härteste Arbeit habe ich getan. Dennoch sage ich euch: "Kommt, erntet von
meinem Acker. Es freut mich, wenn ihr euch mit den Garben meines Korns beladet.
Wenn ihr all das Korn, das ich unermüdlich überall ausgesät habe, eingebracht
habt, dann wird der Wille Gottes erfüllt sein, und ich werde mich zum Festmahl
des himmlischen Jerusalem niedersetzen." Seht, da kommen Samariter mit Fotinai.
Übt Nächstenliebe an ihnen. Es sind Seelen, die zu Gott kommen.»
_______
1) vgl. Geschichte
Jakobs in Gen 25,19-37,36; 45,16-50,14. Jakob, dem Gott den Namen Israel gab,
wurde zum Oberhaupt des israelitischen Stammes. S. Gen 32,23-31. Er erwarb sich
ein Grundstück bei Sichern, schlug dort sein Zelt auf und baute einen Altar. In
der Genesis deutet nichts darauf hin, daß dort ein Brunnen war, es läßt sich
jedoch vermuten, daß es einen gab, da Jakob sich dort während einiger Zeit
niederließ. Sichern heißt auf Aramäisch Sichar.