JESUS UND DIE SÜNDERIN, DIE IHN VERSUCHEN SOLL
Kap.586
Jesus befindet sich in Nob in der Nähe
von Jerusalem. Er ist zu Gast bei einem alten Mann namens Johannes.
Das Herannahen von
Festtagen hat immer die Kraft, die Menschen zu begeistern, fast als ob die Festlichkeit
alles auslöschen könnte, was bedrückt und ermüdet. Schon vor dem Beginn eines
Festes erfaßt alle eine gewisse Lebhaftigkeit, eine leichte Erregung, beinahe
wie es den Wilden mit dem Tam-Tam ergeht bei ihren heidnischen Festen oder
ihren kriegerischen Unternehmungen.
Auch die Apostel
befinden sich beim Herannahen des Lichterfestes in diesem euphorischen
Gemütszustand. Redselig und heiter schmieden sie Pläne. (...)
Am Vorabend des
Tempelweihfestes scheint das Häuslein bereit zu sein, eine Braut aufzunehmen,
so sehr ist es verändert mit seinem glänzenden Kupfergeschirr, seinen Lampen,
die leuchten wie die Sonne, den heiteren grünen Zweigen an den weißen Wänden
und dem Duft von Brot und Kuchen, der sich mit dem Wohlgeruch der Zweige
mischt.
Jesus läßt sie
machen. Er scheint so fern von allem zu sein, sehr nachdenklich und auch
traurig. Er antwortet denen, die ihn fragen, und mit der Frage um ein Lob für
das, was sie getan haben, betteln. (...)
Es muß wohl Brauch
sein, daß man sich am Lichterfest etwas schenkt, denn kaum hat sich der alte
Johannes in sein Zimmerchen neben der Küche zurückgezogen, machen sich Elisa
und die Apostel daran, ein Gewand, nützliche holzgeschnitzte Gegenstände und
ein netzartiges Gewebe aus roten, grünen, gelben und indigoblauen Schnüren,
eine spezielle Arbeit der Fischer, fertigzustellen.
Thomas möchte den Griff eines
Deckels fertigschnitzen, wobei es einige Schwierigkeiten gibt. Jemand glaubt,
vor dem Haus Schritte zu hören.
Sie horchen. Nichts
rührt sich.
«Vielleicht war es der
Wind, Meister. Es sind trockene Blätter im Garten...»
«Nein, es waren
Schritte ...»
«Irgend ein
Nachttier. Ich höre nichts.»
«Ich auch nicht, ich
auch nicht ...»
Jesus horcht. Er
scheint zu horchen. Dann erhebt er sein Antlitz und schaut Judas von Kerioth
fest an, der ebenfalls sehr aufmerksam horcht. Mehr als die anderen. Er schaut
ihn so eindringlich an, daß Judas fragt: «Warum schaust du mich so an,
Meister?» Doch er erhält keine Antwort, denn eine Hand klopft an die Tür.
Von den vierzehn
Gesichtern, die die Lampe erhellt, bleibt nur das Gesicht Jesu unverändert. Die
anderen wechseln die Farbe.
«Öffnet! Öffne,
Judas von Kerioth!»
«Ich nicht, ich
öffne nicht! Es könnten Übeltäter sein, die absichtlich in der Nacht kommen.
Ich will dir nicht schaden!»
«Öffne du, Simon des
Jonas.»
«Auf keinen Fall!
Ich schiebe eher den Tisch vor die Tür», sagt Petrus und will es auch schon
tun.
«Öffne Johannes, und
fürchte dich nicht!»
«Oh, wenn du
wirklich jemand hereinlassen willst, dann gehe ich hinüber zu dem Alten. Ich
will nichts sehen», sagt Judas Iskariot. In vier großen Schritten nimmt er die
Entfernung zwischen ihm und der Tür zum Zimmer des Alten und verschwindet
darin.
Johannes steht an
der Tür, die Hand bereits am Schlüssel. Er schaut Jesus erschrocken an und flüstert:
«Herr...!»
«Öffne, und fürchte
dich nicht!»
«Aber ja.
Schließlich sind wir doch dreizehn starke Männer. Es wird nicht gleich ein
ganzes Heer anrücken! Mit ein paar Fäusten und viel Geschrei – schrei du, Elisa,
wenn es nötig ist – werden wir sie in die Flucht schlagen. Wir sind ja nicht in
einer Wüste!» sagt Jakobus des Zebedäus. Er zieht das Gewand aus und krempelt
die Ärmel der Tunika oder des Unterkleides auf, bereit, sich zu verteidigen.
Petrus folgt seinem Beispiel.
Noch zögernd öffnet
Johannes die Tür und schaut durch den Spalt. Er sieht nichts und ruft: «Wer ist
der Störenfried?»
Eine weibliche
Stimme antwortet leise, wie leidend: «Eine Frau. Ich will den Meister sehen.»
«Um diese Stunde
kommt man nicht in die Häuser. Wenn du krank bist, warum bist du dann um diese
Stunde noch auf der Straße? Wenn du aussätzig bist, wie kannst du dich dann in
ein Dorf wagen? Wenn du betrübt bist, dann komm morgen zurück. Geh! Kehr
dorthin zurück, woher du gekommen bist», sagt Petrus, der sich hinter Johannes
gestellt hat.
«Oh, hab Erbarmen!
Ich bin allein unterwegs. Mir ist kalt und ich habe Hunger. Ich bin
unglücklich. Ruft mir den Meister. Er hat Mitleid...»
Die Apostel schauen
Jesus stumm an. Jesus ist ernst, sehr ernst, und schweigt. Sie schließen die
Tür wieder.
«Was sollen wir
machen, Meister? Sollen wir ihr wenigstens ein Stück Brot geben? Platz haben
wir nicht. Und mit einer Unbekannten in andere Häuser gehen...» fragt
Philippus.
«Warte, ich werde
nachsehen», sagt Bartholomäus und ergreift die Lampe.
«Es ist nicht nötig,
daß du gehst. Die Frau leidet weder Kälte noch Hunger, und sie weiß gar wohl,
wo sie hingehen kann. Sie hat keine Angst vor der Nacht. Aber sie ist eine
Unglückselige, wenngleich sie weder krank noch aussätzig ist. Sie ist eine
Dirne und kommt, um mich zu versuchen. Ich sage euch das, damit ihr wißt, daß
ich es weiß; damit ihr euch überzeugt, daß ich es weiß. Auch sage ich euch, daß
sie nicht aus eigener Laune kommt, sondern weil sie dafür bezahlt wird.» Jesus
sagt das so laut, daß man ihn auch im Nebenzimmer hören kann, in dem Judas ist.
«Und wer sollte das
getan haben? Zu welchem Zweck?» fragt derselbe Iskariot und erscheint wieder in
der Küche. «Die Pharisäer sicher nicht, und auch die Schriftgelehrten und die
Priester nicht, wenn sie eine Prostituierte ist. Auch glaube ich nicht, daß die
Herodianer so... gehässig sind, daß sie sich die Mühe machen zu... Und wozu
auch das Ganze?»
«Den Grund will ich
dir sagen. Um mich als Sünder anklagen zu können, der Beziehungen zu
öffentlichen Sünderinnen hat. Und du weißt ebenso wie ich, daß es so ist. Und
ich sage dir auch, daß ich weder sie noch die, die sie geschickt haben,
verfluche. Ich bin noch und immer die Barmherzigkeit, und ich gehe zu ihr. Wenn
du mit mir kommen willst, so komm. Ich gehe zu ihr, denn sie ist wirklich eine
Unglückliche. Sie sagt, sie sei es, und glaubt dabei zu lügen, weil sie jung,
schön und gut bezahlt ist, weil sie gesund und zufrieden mit ihrem schamlosen
Leben ist. Aber sie ist ein unglücklicher Mensch. Das ist die einzige Wahrheit,
die sie neben so vielen Lügen sagt. Geh mir voraus und nimm an unserem Gespräch
teil.»
«Ich nicht. Ich will
nicht dabei sein! Warum sollte ich auch?»
«Damit du Zeugnis
ablegen kannst, wenn man dich fragt.»
«Und wer sollte mich
fragen? Von den Unsrigen würde mich keiner fragen, und die anderen... Ich sehe
ja niemanden.»
«Gehorche und geh
voraus.»
«Nein. Hierin will
ich nicht gehorchen, und du kannst mich nicht zwingen, mich einer Hure zu
nähern.»
«Hei! Was bist du
denn? Der Hohepriester vielleicht? Ich komme mit, Meister, und fürchte nicht,
mich zu beflecken», sagt Petrus.
«Nein, ich gehe
allein. Öffne.»
Jesus geht in den
Garten hinaus. In der absoluten Schwärze der noch mondlosen Nacht sieht man die
Hand vor den Augen nicht. Die Küchentür öffnet sich wieder, und Petrus kommt
mit der Lampe heraus. «Nimm wenigstens dies, Meister, wenn du mich wirklich
nicht bei dir haben willst», sagt er laut; und dann fügt er leise hinzu: «Aber
daß du es weißt, wir sind hinter der Tür. Wenn du uns brauchst, rufe nur...»
«Ja, geh. Und
streitet nicht miteinander.»
Jesus nimmt die
Lampe und hebt sie empor, um zu sehen. Hinter dem großen Nußbaumstamm steht
eine menschliche Gestalt. Jesus geht zwei Schritte auf sie zu und befiehlt:
«Folge mir!» Dann begibt er sich zu der Steinbank an der Ostseite des Hauses.
Die Frau kommt
näher, tief verschleiert und gebeugt. Jesus stellt die Lampe auf den Stein
neben sich.
«Sprich!» befiehlt
er in so strengem Ton – er ist dabei so sehr Gott -daß die Frau, anstatt zu ihm
zu kommen und zu sprechen, zurückweicht, sich noch mehr verneigt und kein Wort
sagt.
«Sprich, sage ich
dir. Du hast nach mir verlangt. Ich bin gekommen. Nun sprich», sagt Jesus mit
einem etwas milderen Unterton in der Stimme.
Schweigen.
«Dann spreche ich.
Ich frage dich: Warum haßt du mich so sehr, daß du dich denen zur Verfügung
stellst, die mein Verderben wollen und es auf alle möglichen Arten und mit
allen möglichen Begründungen herbeizuführen suchen? Antworte mir. Was habe ich
dir Böses getan, o du Unglückselige? Was hat dir der Mensch Böses getan, der
dich nicht einmal in seinem Herzen verabscheut wegen des unwürdigen Lebens, das
du führst? Hat dich etwa der Mensch verdorben, der sich nicht einmal in seinem
Herzen nach dir gesehnt hat, daß du ihn noch mehr hassen mußt als die, die dich
zur Hure gemacht haben und die dich jedesmal schmähen, wenn sie zu dir kommen?
Antworte! Was hat dir Jesus von Nazareth angetan, der Menschensohn, den du kaum
vom Sehen kennst, da du ihm nur ein paarmal in den Straßen der Stadt begegnet
bist, Jesus, dem dein Antlitz unbekannt ist und der sich um deine Reize nicht
kümmert, da er nur das beschmutzte und verunstaltete Bild deiner Seele sucht,
um es zu kennen und zu heilen? Sprich also!
Weißt du nicht, wer
ich bin? Ja, einen Teil weißt du, oder sogar etwas mehr. Du weißt, daß ich ein
junger Mann bin und daß ich dir gefalle. Das haben dir deine zügellosen Sinne
gesagt. Und deine trunkene Zunge hat es denen gesagt, die dein Bekenntnis als Waffe
benützen wollen, um mir zu schaden.
Du weißt auch, daß
ich Jesus von Nazareth, der Gesalbte, bin. Das haben dir jene gesagt, die dein
fleischliches Begehren ausgenützt und dich bezahlt haben, damit du hierher
kommst und mich versuchst. Sie haben dir gesagt: "Er nennt sich Christus.
Die Massen nennen ihn den Heiligen, den Messias. Er ist aber nichts weiter als
ein Betrüger. Wir müssen Beweise haben für seine menschliche Armseligkeit. Gib
sie uns, und wir werden dich mit Gold überschütten." Und weil du mit einem
Rest von Gerechtigkeit, mit einer Krume des Schatzes der Gerechtigkeit, den
Gott zusammen mit der Seele in dein Fleisch gelegt hat und den du verloren und
zerstreut hast, mir nicht schaden wolltest – denn du liebst mich auf deine
Weise – haben sie dir gesagt: "Wir wollen ihm nichts Böses tun. Im
Gegenteil, wir überlassen dir den Mann. Ja, wir werden es dir ermöglichen, ihn
als König an deiner Seite leben zu lassen. Es genügt, uns sagen zu können, um
unser Gewissen zu beruhigen: Er ist ein gewöhnlicher Mensch und wir haben den
Beweis, daß wir im Recht sind, wenn wir nicht an ihn als den Messias
glauben." Das haben sie gesagt, und du bist gekommen. Aber wenn ich der
Verlockung erliegen würde, wäre es die Hölle für mich. Sie sind schon bereit, mich
mit Schmutz zu überhäufen und mich gefangenzunehmen. Und du bist ihr Werkzeug.
Du siehst, ich frage
dich nicht. Ich spreche, weil ich weiß, ohne fragen zu müssen. Aber wenn du
auch diese beiden Dinge weißt, das dritte weißt du nicht. Du siehst den
Menschen. Und die anderen sagen dir: "Er ist der Nazarener." Aber ich
sage dir, wer ich bin. Ich bin der Erlöser. Ich habe menschliche Gestalt
angenommen, um euch zu retten, um die Sünde zu vernichten, und nicht um zu
sündigen. Ich habe sie angenommen, um eure Sünden wegzunehmen, nicht um mit
euch zu sündigen. Ich habe sie angenommen, um euch zu lieben, aber mit einer
Liebe, die ihr Leben, ihr Blut, ihr Wort und alles hingibt, um euch zum Himmel,
zur Gerechtigkeit zu führen, und nicht, um euch zu lieben wie ein Tier. Und
auch nicht wie ein Mensch, denn ich bin mehr als ein Mensch.
Weißt du genau, wer
ich bin? Du weißt es nicht. Du weißt nicht einmal die Bedeutung dessen, was zu
tun du gekommen bist. Und daher verzeihe ich dir, ohne daß du darum bittest. Du
wußtest nicht. Aber deine Prostitution! Wie kannst du als Dirne leben? Du warst
früher nicht so. Du warst gut. Oh, du Unglückliche! Erinnerst du dich nicht
deiner Kindheit? Erinnerst du dich nicht der Küsse deiner Mutter? Und ihrer
Worte? Und der Stunden des Gebetes? Der Worte der Weisheit, die dir dein Vater
abends erklärte und die du am Sabbat in der Synagoge hörtest? Wer hat dich so
blind, so trunken gemacht? Erinnerst du dich nicht? Bedauerst du es nicht? Sage
mir: Bist du wahrhaft glücklich? Du antwortest nicht? Dann spreche ich für
dich. Und ich sage dir: Nein, du bist nicht glücklich. Wenn du am Morgen
erwachst, findest du auf dem Kissen deine Schande, die erste Qual deines Tages.
Und die Stimme des Gewissens schleudert dir ihre Vorwürfe entgegen, während du
dich zurechtmachst und parfümierst, um zu gefallen. Und du hast das Gefühl, daß
die feinsten Essenzen einen abscheulichen Geruch verbreiten und die seltensten
Speisen einen ekelhaften Geschmack haben. Und deine Geschmeide lasten auf dir
wie Ketten. Das sind sie auch. Und während du lachst und verführst, seufzt doch
etwas in dir. Und dann betrinkst du dich, um die Langeweile und den Ekel deines
Lebens zu betäuben. Und du haßt alle, die du zu lieben vorgibst, um Geld zu
verdienen. Und du verwünschest dich selbst, und deinen Schlaf beschweren
Alpträume. Der Gedanke an deine Mutter ist ein Schwert in deinem Herzen. Und
der Fluch deines Vaters läßt dir keinen Frieden. Und dann sind da noch die
Beleidigungen derer, die dir begegnen, und die Grausamkeiten derer, die dich
mitleidlos mißbrauchen. Denn du bist eine käufliche Ware. Du hast dich
verkauft. Die bezahlte Ware gebraucht man nach Belieben. Man zerreißt und
verzehrt sie, man tritt sie mit Füßen und bespeit sie. Es ist das Recht des
Käufers. Und du kannst dich nicht wehren... Macht dich dieser Zustand
glücklich? Nein. Du bist verzweifelt. Du bist angekettet. Du wirst gequält. Auf
der Erde gleichst du einem schmutzigen Lappen, den jeder mit Füßen treten kann.
Suchst du in den Stunden der Qual Trost und erhebst den Geist zu Gott, so
fühlst du den Zorn Gottes über dir, der Prostituierten, und, mehr noch als
Adam, scheint dir der Himmel verschlossen. Wenn du dich übel fühlst, erfüllt
dich der Gedanke an den Tod mit Entsetzen, denn du kennst dein Schicksal. Der
Abgrund ist dein Los.
Oh, Unglückliche!
Genügt das noch nicht? Willst du der Reihe deiner Sünden auch noch die
hinzufügen, das Verderben des Menschensohnes zu sein? Dessen, der dich liebt?
Des einzigen, der dich liebt? Denn auch um deiner Seele willen hat er Fleisch
angenommen. Ich könnte dich retten, wenn du es willst. Über den Abgrund deiner
Verworfenheit neigt sich der Abgrund der barmherzigen Heiligkeit und wartet auf
deinen Wunsch, gerettet zu werden, um dich aus dem Abgrund deiner Unreinheit
herauszuziehen. In deinem Herzen hältst du es für unmöglich, daß Gott dir
verzeiht. Und du glaubst es, weil du die Welt vor Augen hast, die dir nicht
verzeiht, daß du eine Hure bist. Aber Gott ist nicht die Welt. Gott ist Güte.
Gott ist Verzeihung. Gott ist Liebe.
Du bist zu mir
gekommen und bezahlt worden, um mir zu schaden. Wahrlich, ich sage dir, daß der
Schöpfer, um eines seiner Geschöpfe zu retten, auch das Böse zum Guten wenden
kann. Und wenn du willst, wird aus deinem Kommen zu mir etwas Gutes. Schäme
dich nicht vor deinem Erlöser. Schäme dich nicht, ihm dein Herz offen zu
zeigen. Wenn du es auch verbergen wolltest, er sieht es dennoch und weint
darüber. Weine, liebe, und schäme dich nicht der Reue! Sei kühn in der Reue,
wie du kühn warst in der Schuld. Du bist nicht die erste Prostituierte, die zu
meinen Füßen weint und die ich zur Gerechtigkeit zurückführe... Nie habe ich
ein Geschöpf verjagt, so schuldbeladen es auch war. Ich habe vielmehr versucht,
es an mich zu ziehen und zu retten. Das ist meine Sendung.
Der Zustand eines
Herzens schreckt mich nicht ab. Ich kenne Satan und seine Werke. Ich kenne die
Menschen und ihre Schwächen. Ich kenne die Lage der Frau, die gerechterweise
schwerer als der Mann an den Folgen der Schuld Evas zu tragen hat. Ich kann
daher urteilen und mitfühlen. Und ich sage dir, daß ich weniger streng mit den
gefallenen Frauen sein werde als mit denen, die sie zum Bösen verführt haben.
Was dich Unglückliche angeht, so bin ich strenger gegen jene, die dich
geschickt haben, als gegen dich, die du gekommen bist, ohne recht zu wissen,
wozu du dich hergegeben hast. Ich hätte es lieber gesehen, wenn dich, wie
andere deiner Schwestern, das Verlangen nach Erlösung zu mir geführt hätte.
Aber wenn du den Wünschen Gottes entsprichst und dein böses Tun zum Eckstein
deines neuen Lebens machst, dann werde ich dir das Wort des Friedens sagen ...»
Jesus, der zu Anfang
sehr streng war und dann immer sanfter geworden und dabei doch so sehr Gott
geblieben ist, daß jegliche Schwäche der Sinne und auch jeglicher Irrtum in der
Wertung seiner Güte ausgeschlossen sind, schweigt jetzt. Er schaut die Frau an,
die noch gebeugt, immer tiefer gebeugt, etwa zwei Meter vor ihm steht. Nach der
ersten Hälfte seiner Rede hat sie das verschleierte Gesicht mit den Händen
bedeckt; zwei schöne Hände, die sich von dem dunklen Mantel abheben und mit
vielen Ringen geschmückt sind, während Armreife an den Handgelenken der bis zum
Ellbogen nackten Arme glänzen.
Ich weiß nicht, ob
die Frau weint oder nicht. Wenn ja, dann sehr leise, denn man hört kein
Schluchzen und sieht auch kein Beben des Körpers. Sie gleicht einer Statue, so
unbeweglich steht sie in ihren dunklen Gewändern da. Dann fällt sie plötzlich
auf die Knie und weint nun wirklich ganz zusammengekauert, ohne sich zu
bemühen, es zu verbergen. Als sie so wie ein Häufchen Elend auf der Erde liegt,
sagt sie: «Es ist wahr. Du bist wahrhaft ein Prophet... Alles ist wahr... Man
hat mich dafür bezahlt... Aber man hat mir gesagt, es sei eine Wette... Sie
hätten dich überrascht in meinem Haus ...»
«Frau, ich will dich
nur von deinen Sünden sprechen hören ...» unterbricht sie Jesus.
«Es ist wahr, ich
habe kein Recht, andere anzuklagen, denn ich bin ein Misthaufen von Unreinheit.
Alles ist wahr. Ich bin nicht glücklich ... Ich habe keine Freude an Reichtümern,
Festgelagen und Liebschaften ... Ich erröte, wenn ich an meine Mutter denke...
Ich fürchte mich vor Gott und vor dem Tod... Ich hasse die Menschen, die mich
bezahlen. Alles, was du gesagt hast, ist wahr. Aber jage mich nicht fort, Herr.
Niemand außer meiner Mutter hat je wie du zu mir gesprochen. Ja, du hast sogar
noch sanfter zu mir gesprochen als meine Mutter, die in der letzten Zeit wegen
meiner Lebensführung hart zu mir war. Um sie nicht mehr hören zu müssen, bin
ich nach Jerusalem geflohen... Aber du... Und doch ist es, als wäre deine Milde
wie Schnee auf dem Feuer, das mich verzehrt. Mein Feuer wird ruhiger, ja, es
ist ein anderes Feuer. Es glühte, aber es gab kein Licht und keine Wärme. Ich
war von Eis und in Finsternis. Oh, wieviel habe ich aus eigenem Willen
gelitten! Wieviel unnützen und verfluchten Schmerz habe ich mir selbst
zugefügt! Herr, ich habe dir durch die halbgeöffnete Tür gesagt, daß ich eine
Unglückliche bin und habe um dein Mitleid gebeten. Es waren Lügen, die man mir
beigebracht hatte, um dich in die Falle zu locken. Sie haben mir gesagt, daß
meine Schönheit alles übrige tun würde... Meine Schönheit. Meine Kleidung... !»
Die Frau erhebt
sich. Nun, da sie aufrecht steht, sehe ich, daß sie groß ist. Sie reißt sich
den Schleier vom Kopf und den Mantel vom Leib und erscheint jetzt in ihrer
wahren Schönheit mit dem kastanienbraunen Haar und der schneeweißen Haut. Die
sehr schönen und großen, durch die schwarze Schminke noch größer wirkenden
Augen haben einen Blick erstaunter Unschuld, den man bei einer solchen Frau
nicht erwarten würde. Vielleicht haben die Tränen sie schon gewaschen. Die Frau
zerreißt und zertritt den Stoff ihres Mantels und den Schleier, reißt die
kostbaren Schnallen von beiden ab und wirft sie auf den Boden. Dann streift sie
die Ringe und die Armbänder ab und wirft sie zusammen mit dem Kopfschmuck weit
von sich. Sie packt die gekräuselten Haarbüschel, reißt die glitzernden Spangen
heraus und zerstört das Kunstwerk ihrer Frisur mit einer Opferwut, die fast
erschreckend ist. Die Perlen der gewaltsam abgerissenen Halskette rollen über
den Boden, und die mit zierlichen Sandalen bekleideten Füße zerstampfen sie.
Der kostbare Gürtel teilt dasselbe Los, und ebenso die Schnalle, die kunstvoll
den Stoff des Kleides über der Brust zusammenhält. All das, während sie mit
leiser, erregter Stimme wiederholt: «Fort! Fort! Ihr verfluchten Dinge! Fort
von mir, ihr und die, die sie mir geschenkt haben! Fort mit meiner Schönheit!
Fort mit meinen Haaren. Fort mit meiner Jasminhaut!»
Nun hebt sie schnell
einen spitzen Stein vom Boden auf und schlägt sich damit das Gesicht und den
Mund blutig. Sie zerkratzt sich mit ihren gefärbten Nägeln, und Blut tropft aus
den Wunden, während die Gesichtszüge unter den Schlägen anschwellen... bis sich
ihre Raserei legt und sie sich keuchend, erschöpft, entstellt und zerzaust in
ihrem mit Blut und Erde beschmutzten Gewand Jesus zu Füßen wirft und stöhnt:
«Und jetzt kannst du mir verzeihen, wenn du mein Herz siehst, denn jetzt ist
nichts mehr von meiner Vergangenheit übrig, nichts mehr von... Du hast gesiegt,
o Herr, über deine Feinde und mein Fleisch... Verzeih mir mein sündiges Leben
und Tun ... !»
«Ich habe dir schon
verziehen, als ich dir entgegengekommen bin. Erhebe dich und sündige nicht
mehr.»
«Sage mir, was ich
tun soll, um nicht mehr zu sündigen.»
«Entferne dich vom
Ort deiner Sünde und von denen, die wissen, wer du bist. Deine Mutter...»
«Oh, mein Herr! Sie
wird mich nicht mehr aufnehmen. Sie haßt mich wegen meines Vaters, der
meinetwegen gestorben ist und mich verflucht hat!»
«Wenn Gott selbst
dich aufnimmt, weil er Vater ist, sollte dich da die Mutter nicht aufnehmen,
die dich geboren hat und die Frau ist wie du? Geh demütig zu ihr. Weine zu
ihren Füßen, wie du es jetzt zu meinen Füßen tust. Bekenne ihr alles, wie du es
mir bekannt hast. Sprich ihr von deinem Leid. Flehe sie an um Mitleid. Deine
Mutter erwartet diesen Augenblick seit Jahren. Sie wartet auf ihn, um in
Frieden sterben zu können. Ertrage ihre Worte liebevollen Vorwurfs, wie du die
meinen ertragen hast. Ich war für dich der Fremde, und dennoch hast du mich
angehört. Sie ist dir Mutter. Du hast daher die doppelte Pflicht, sie mit
Ehrfurcht anzuhören.»
«Du bist der
Messias. Du bist mehr als meine Mutter.»
«Jetzt sagst du es.
Aber als du gekommen bist, um mich zu versuchen, hast du nicht gewußt, daß ich
der Messias bin, und dennoch hast du meine Worte angehört.»
«Du warst so
verschieden von den anderen Menschen, so... Heilig bist du, o Jesus von
Nazareth!»
«Deine Mutter ist
heilig als Mutter und als Geschöpf. Durch ihre Gebete hast du Barmherzigkeit
bei Gott gefunden. Sie ist immer heilig, die Mutter! Und Gott will, daß man sie
ehrt.»
«Ich habe sie
entehrt. Der ganze Ort weiß es.»
«Ein Grund mehr, zu
ihr zu gehen und ihr zu sagen: "Mutter, verzeih mir!"; und ihr das
Leben zu widmen, um die Qualen wiedergutzumachen, die sie um dich gelitten
hat.»
«Ich werde es tun...
Aber... Herr, schicke mich nicht zurück nach Jerusalem. Sie erwarten mich...
Und ich weiß nicht, ob ich ihren Drohungen zu widerstehen vermag... Laß mich
bis zum Morgengrauen hierbleiben, und dann ...»
«Warte einen
Augenblick.»
Jesus erhebt sich,
geht zur Küchentür, klopft an und läßt sich öffnen. Dann sagt er: «Elisa, komm
heraus.»
Elisa gehorcht. Jesus
führt sie zu der Frau, die, als sie eine andere, ältere Frau auf sich zukommen
sieht, sich schämt und versucht, das Gesicht und das anstößige Kleid mit den
Resten des zerrissenen Mantels und des Schleiers zu bedecken.
«Höre, Elisa. Ich
verlasse sofort dieses Haus. Sage meinen Aposteln, daß sie mich im Morgenrot am
Herodestor antreffen werden; alle, mit Ausnahme von Judas von Kerioth, der mit
mir kommen muß. Laß diese Frau bei dir schlafen. Du kannst mein Bett benützen,
denn ich werde für lange Zeit nicht nach Nob zurückkehren. Morgen, wenn
Johannes erwacht, begleitet ihr beide sie an den Ort, den sie euch sagen wird.
Gib ihr ein gewöhnliches Kleid und einen von deinen Mänteln. Und helft ihr in
allem.»
«Gut, Herr. Es wird
alles geschehen, wie du willst. Nur Johannes tut mir leid ...»
«Mir auch. Ich
wollte ihm eine Freude machen, aber der Haß der Menschen erlaubt es dem
Menschensohn nicht, dem Gerechten eine festliche Stunde zu schenken...»
«Und dann, Herr?»
«Dann? Du kannst
nach Bethsur zurückkehren und dort warten... Leb wohl, Elisa. Mein Segen und
mein Friede seien mit dir. Leb wohl, Frau. Ich vertraue dich einer Mutter und
einem Gerechten an. Wenn du jedoch glaubst, zurückkehren zu müssen, um deine
Sachen zu holen...»
«Nein. Nein, ich
will nichts mehr aus meiner Vergangenheit.»
«Aber Frau! Du
kannst doch nicht einfach alles stehen- und liegenlassen! Hast du keine Diener,
keine Verwandten?» sagt Elisa.
«Ich habe nur eine
Dienerin... und...»
«Du wirst sie
entlassen müssen, du mußt ...»
«Ich bitte dich, es
nach deiner Rückkehr an meiner Stelle zu tun. Hilf mir, ganz zu gesunden, gute
Frau!» Ihre Stimme klingt sehr ängstlich.
«Ja, meine Tochter!
Ja. Habe keine Angst. Morgen werden wir an alles denken. Jetzt komm mit mir
nach oben.» Und Elisa nimmt sie bei der Hand und führt sie die Treppe hinauf in
eines der beiden oberen Zimmerchen. Dann kommt sie rasch wieder herab. «Ich
denke mir, es wäre gut, wenn alle dich ohne sie sehen, Herr. Und wenn sie nicht
wissen, wo sie ist... Dieser Schmuck ...» Sie bückt sich, um die Ringe und die
Armbänder, die Schnallen und die Klammern, den Gürtel und alle Perlen der
zerrissenen Halskette, die sie findet, aufzuheben: «Was machen wir damit,
Herr?»
«Komm mit mir. Du
hast recht. Es ist gut, wenn sie mich sehen.»
Sie betreten die
Küche. Alle schauen Jesus fragend an. Auch der Alte ist wieder aufgestanden,
vielleicht geweckt durch einen Streit.
«Elisa, gib Thomas
die Schmuckstücke. Du, Thomas, wirst sie morgen irgendeinem Goldschmied
verkaufen. Wir helfen damit den Armen. Ja, es sind Schmuckstücke einer Frau,
dieser Frau. Und das ist die Antwort für den, der glaubt, den Menschensohn
durch das Fleisch versuchen und von seiner Mission abbringen zu können. Und es
zeigt auch denen, die mich hassen, daß alle Ränke vergeblich sind und ihnen
kein Beweismaterial für eine Anklage verschaffen. Johannes, Elisa wird dir
sagen, was du zu tun hast. Ich segne dich ...»
«Du verläßt mich,
Herr?» Der kleine Alte ist schmerzlich betroffen.
«Ich muß fort. Leb
wohl. Der Friede sei mit dir.» Dann wendet er sich an die Apostel: «Geht zur
Ruhe. Alle, mit Ausnahme von Judas von Kerioth, der mit mir kommt.»
«Wohin denn? Es ist
doch Nacht!» wendet Judas ein.
«Wir gehen beten.
Das wird dir nicht schaden. Oder fürchtest du die Nachtluft, wenn du sie mit
mir atmest?»
Judas senkt den Kopf
und nimmt unwillig seinen Mantel, während Jesus den seinen anlegt.
«Morgen bei
Tagesanbruch sehen wir uns am Herodestor. Wir werden zum Tempel gehen und...»
«Nein!» Es ist ein
einstimmiges Nein, doch das des Judas ist am stärksten.
«Wir werden zum
Tempel gehen. Hast du nicht gesagt, daß du sie überredet hast, mich in Ruhe zu
lassen?»
«Das ist wahr.»
«Dann werden wir zum
Tempel gehen. Komm!» Und er schickt sich an hinauszugehen.
«Und so ist das
Fest, das wir vorbereitet haben, schon zu Ende ...»seufzt Petrus.
«Zu Ende, bevor es
begonnen hat, mußt du sagen», berichtigt ihn Jakobus des Zebedäus.
Jesus steht schon
auf der Schwelle der offenen Tür. Er dreht sich um und segnet sie. Dann
verschwindet er in der Nacht.
In der Küche sind alle
verstummt. Endlich fragt Matthäus Elisa: «Aber was ist denn eigentlich
geschehen?»
«Ich weiß es auch
nicht. Da stand eine weinende Frau, und er hat mir gesagt, was er auch euch
gesagt hat. Wer sie ist, woher sie kommt und warum sie gekommen ist, weiß ich
nicht ...»
«Nun gut. Gehen
wir...» Und außer Matthäus und Bartholomäus, die im Haus schlafen, gehen alle
weg.