Jesus spricht zu Bewohnern von Gamala und zu Strafgefangenen

aus Kap.504: November, 3. Lehrjahr, Sommer

(...)

Jesus und die Apostel verlassen rasch den Wald, in dem sie geschlafen haben, und gehen auf einem steinigen Pfad auf der gegenüberliegenden Seite des kleinen Tals weiter, das immer enger wird, je mehr es sich dem bizarren Berg nähert, an den sich Gamala klammert. Dieser Berg ist auf drei Seiten, nämlich im Osten, im Norden und im Westen, sehr steil und mit der Umgegend nur durch diesen einzigen direkten Weg verbunden, der von Süden nach Norden führt, hoch oben zwischen zwei felsigen, wilden Tälern, welche die Stadt von den Gefilden im Osten und von den Eichenwäldern im Westen trennen.

Viele Schweinehirten gehen mit ihren wühlenden Herden in Richtung auf die Eichenwälder. Mit viereckigen Steinen beladene und von Ochsen gezogene knarrende Karren fahren langsam vorüber. Der eine oder der andere Reiter trabt, Staubwolken aufwirbelnd, dahin. Gruppen von zerlumpten und abgezehrten Erdarbeitern, vermutlich in ihrer Mehrzahl Sklaven oder zu Zwangsarbeit Verurteilte, werden von strengen Aufsehern zu den Arbeitsplätzen getrieben.

Allmählich kommt der Berg näher, und schon steigt die Straße an. Man sieht bereits Festungsgräben, die sich wie Ringe um die Flanken des Berges ziehen. Diese Gräben auszuheben muß kein Leichtes gewesen sein, besonders an manchen beinahe überhängenden Stellen. Dennoch arbeiten zahlreiche Menschen daran, die schon bestehenden Befestigungen auszubessern und neue hinzuzufügen. Auf nackten Schultern schleppen sie viereckige Steine herbei, welche die Unglücklichen niederdrücken und oft blutige Spuren hinterlassen.

«Was machen diese Bürger da? Besteht etwa Kriegsgefahr, daß sie so hart arbeiten müssen? Sie müssen verrückt sein», sagen die Apostel zueinander, während die Frauen die unglücklichen halbnackten Männer bedauern, die schlecht genährt sind und zu Arbeiten gezwungen werden, die ihre Kräfte übersteigen.

«Aber wer zwingt sie denn zu arbeiten, der Tetrarch oder die Römer?»fragen die Apostel weiter und diskutieren miteinander, da mir Gamala doch unabhängig zu sein scheint von den Tetrarchien des Philippus und des Herodes. Auch halten es einige der Apostel für unmöglich, daß die Römer sozusagen zu Hause noch weitere Befestigungen errichten lassen, die morgen gegen sie benützt werden könnten. Die ewige, schon zum Wahn gewordene Idee vom zeitlichen Reich des Messias erscheint hier wieder wie das Wahrzeichen eines bereits sicheren Sieges und nationaler Größe und Unabhängigkeit.

Sie sprechen so laut, daß einige der Aufseher sich nähern und zuhören. Es sind rohe Menschen, der Rasse nach sichtlich keine Hebräer; viele sind bejahrt und verschiedene tragen Narben am Körper. Aber was sie sind, verraten die verächtlichen Worte eines von ihnen: «"Unser Reich"! Hast du das gehört, Titus? Oh, ihr Krummnasen! Euer Reich liegt schon unter diesen Steinen begraben. "Wer sich des Feindes bedient, um gegen den Feind Bauten zu errichten, dient dem Feind" , das sagt euch Publius Corfinius. Solltet ihr mich nicht verstehen, so wartet ab, und die Steine werden euch das Rätsel lösen», und er lacht und erhebt die Peitsche, da er sieht, daß einer der Arbeiter vor Erschöpfung wankt und sich niedersetzt. Und er würde ihn schlagen, wenn Jesus es nicht verhindern würde, indem er vortritt und sagt: «Es ist dir nicht erlaubt. Er ist ein Mensch wie du.»

«Wer bist du, daß du dich einmischest und einen Sklaven verteidigst?»

«Ich bin die Barmherzigkeit. Mein Name als Mensch würde dir nichts sagen; aber diese meine Eigenschaft soll dich daran erinnern, barmherzig zu sein. Du hast gesagt: "Wer sich des Feindes bedient, um gegen den Feind Bauten zu errichten, dient dem Feind." Damit hast du eine schmerzliche Wahrheit ausgesprochen. Aber ich sage dir nun eine lichtvolle: "Wer nicht Barmherzigkeit übt, wird keine Barmherzigkeit erfahren."»

«Bist du ein Rhetor?»

«Ich bin die Barmherzigkeit, ich habe es dir gesagt.»

Einige, die aus Gamala kommen oder auf dem Weg dorthin sind, sagen: «Es ist der Rabbi aus Galiläa, der den Krankheiten, den Winden und Wassern und den Dämonen befiehlt, der die Steine in Brot verwandelt und dem nichts widersteht. Laßt uns in die Stadt eilen, um es unseren Mitbürgern mitzuteilen. Die Kranken sollen kommen! Wir wollen sein Wort hören. Auch wir sind von Israel.» Und einige von ihnen laufen fort, während die anderen sich um den Meister drängen.

Der Aufseher von vorhin fragt: «Ist es wahr, was diese von dir sagen?»

«Es ist wahr.»

«Wirke ein Wunder, und ich werde glauben.»

«Man fordert nicht Wunder, um zu glauben. Man bittet um Glauben, um glauben und so ein Wunder erlangen zu können. Glauben und Barmherzigkeit für den Nächsten sind notwendig.»

«Ich bin Heide.»

«Das ist kein guter Grund. Du lebst in Israel und verdienst hier dein Geld...»

«Weil ich arbeite.»

«Nein, weil du andere arbeiten läßt.»

«Ich verstehe es, arbeiten zu lassen.»

«Ja, erbarmungslos. Hast du nie daran gedacht, daß du, wenn du statt Römer Israelit wärst, an der Stelle eines dieser Arbeiter sein könntest?»

«Ja, gewiß. Aber ich bin es nicht, dank dem Schutz der Götter.»

«Sie könnten dich nicht verteidigen, deine eitlen Götzen, wenn der wahre Gott dich anschuldigen wollte. Du bist noch nicht tot, sei also barmherzig, um Barmherzigkeit zu finden...»

Der Mann will antworten und etwas erwidern, dann aber dreht er Jesus

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mit einem verächtlichen Achselzucken den Rücken zu und geht, um einen zu schlagen, der aufgehört hat, mit der Spitzhacke eine widerspenstige Schicht des Gesteins zu bearbeiten.

Jesus schaut den unglücklichen Arbeiter und auch den Schläger an. Zwei Blicke gleicher und doch ungleicher Barmherzigkeit und von einer so tiefen Traurigkeit, daß sie mich an gewisse Blicke Christi während der Passion erinnern. Aber was kann er tun? Er kann nicht eingreifen, und so nimmt er den Weg wieder auf mit der Last dieses schrecklichen Anblicks, die ihm das Herz beschwert.

Doch von Gamala kommen im Laufschritt Bürger herab, gewiß wichtige Persönlichkeiten der Stadt. Bei Jesus angekommen, verneigen sie sich tief und laden ihn ein, in ihre Stadt zu kommen, um zu den Bürgern zu sprechen, die sich ihrerseits schon scharenweise nähern.

«Ihr könnt gehen, wohin ihr wollt. Diese hier (er zeigt auf die Arbeiter) können es nicht. Es ist noch frisch, und die Lage dieses Ortes schützt uns vor der Sonnenhitze. Gehen wir zu den Unglücklichen dort, damit auch sie das Wort des Lebens hören», antwortet Jesus. Er macht sich als erster auf den Weg, geht ein Stück zurück und schlägt dann einen holperigen Pfad ein, der genau am Berg entlang dorthin führt, wo die mühevollste Arbeit geleistet wird. Schließlich wendet er sich an die Prominenten und spricht: «Wenn es in eurer Gewalt steht, es zu tun, dann gebietet, daß die Arbeit eingestellt werde.»

«Gewiß können wir das. Wir sind ja diejenigen, die bezahlen, und wenn wir freie Stunden bezahlen, wird niemand sich beklagen können», sagen jene von Gamala und gehen, um mit den Aufsehern zu verhandeln, die ich kurz darauf die Achseln zucken sehe, wie um zu sagen: «Wenn ihr damit einverstanden seid, was kümmert es uns?» Sie pfeifen der Arbeiterkolonne ein Signal zu, das sicher Ruhepause bedeutet.

Jesus hat inzwischen mit noch anderen von Gamala gesprochen, die sich Zeichen der Zustimmung machen und zur Stadt zurückeilen sehe.

Die Arbeiter kommen furchtsam herbei und sammeln sich um ihre Aufseher.

«Unterbrecht eure Arbeit. Das Getöse stört den Philosophen», befiehlt einer von ihnen, vielleicht der Bauleiter. Die Arbeiter schauen müden Blickes auf den als "Philosophen" Bezeichneten, dem sie das Geschenk der Pause zu verdanken haben. Dieser "Philosoph", der sie mitleidig anschaut, antwortet auf ihre Blicke und auf die Worte des Vorstehers, indem er sagt: «Der Lärm stört mich nicht, aber es schmerzt mich, sie leiden zu sehen. Kommt, Söhne, ruht eure Glieder und noch mehr euer Herz beim Gesalbten Gottes aus.»

Volk, Sklaven, Sträflinge, Apostel und Jünger drängen sich auf dem freien Fleckchen Erde zwischen dem Berg und den Schützengräben, und wer dort keinen Platz findet, klettert zu einem höheren Verteidigungsgraben hinauf oder setzt sich auf einen der am Boden liegenden Steinblöcke. Die weniger Glücklichen ergeben sich darin, auf die Straße zu gehen, die die ersten Sonnenstrahlen schon erreichen. Immer mehr Volk strömt aus Gamala herbei, und es bleiben auch solche stehen, die von anderswoher auf dem Weg zur Stadt waren.

Eine große Menge. Darunter die, die vor kurzem weggegangen sind. Sie tragen Körbe und schwere Krüge und drängen sich bis zu Jesus vor, der die Apostel beauftragt hat, die Arbeiter in die vordersten Reihen zu bringen. Körbe und Krüge werden zu Jesu Füßen hingestellt.

«Gebt diesen die Liebesgaben!» befiehlt Jesus.

«Sie haben schon gegessen, und dort gibt es noch Trank und Brot. Wenn sie zu viel essen, sind sie zu schwerfällig bei der Arbeit», schreit ein Aufseher.

Jesus schaut ihn an und wiederholt den Befehl: «Gebt diesen ein menschenwürdiges Essen und bringt mir das ihrige!» Mit Hilfe von Freiwilligen führen die Apostel den Befehl aus.

Ihr Essen! Dunkle, harte Krusten, die man nicht einmal Tieren vorwerfen würde, und etwas mit Essig gemischtes Wasser... Das ist das Essen der Zwangsarbeiter. Jesus schaut es an und läßt diese armselige Nahrung an der Bergwand aufschichten. Dann blickt er auf jene, die es hätten essen sollen, abgezehrte Körper, die durch die außergewöhnliche Anstrengung fast nur aus überentwickelten Muskeln bestehen, aus Muskelbündeln unter der schlaffen Haut; die fiebrigen Augen sind verschüchtert, während die Münder gierig, fast tierisch die reichlichen, unerwarteten Speisen kauen und den frischen, stärkenden Wein trinken.

Jesus wartet geduldig, bis sie ihr Mahl beendet haben. Nicht lange muß er warten, denn ihre Gier so groß, daß bald alles verzehrt ist.

Nun breitet Jesus wie immer zu Beginn seiner Predigten die Arme aus, um die Aufmerksamkeit der Menge auf sich zu lenken und Schweigen zu gebieten. Er sagt: «Was sehen die Augen der Menschen an diesem Ort? Täler, noch tiefer gegraben, als die Natur sie geschaffen hat; Hügel, aufgehäuft aus Steinmassen und Erde; gewundene Wege, die wie Tierhöhlen in den Berg hineinführen. Wozu all das? Um eine Gefahr abzuwenden, von der man nicht weiß, woher sie kommen wird, deren Heraufziehen wie ein Hagelwetter bei stürmischem Himmel man aber fühlt.

Wahrlich, hier ist man in menschlicher Weise vorgegangen, mit menschlichen Kräften und Mitteln, und auch mit unmenschlichen, um Verteidigungs- und Angriffsmöglichkeiten vorzubereiten, ohne sich der Worte des Propheten zu erinnern, der sein Volk gelehrt hat, wie man sich vor dem menschlichen Mißgeschick mit übermenschlichen Mitteln – den wirksamsten – schützen kann. Er ruft: "Tröstet euch... ja tröstet Jerusalern, denn seine Knechtschaft ist zu Ende und seine Schuld gesühnt; denn zweifaches empfing es aus der Hand des Herrn für alle seine Sünden."

Nach dem Versprechen zeigt er die Art, wie man es wahr werden läßt "Bereitet den Weg des Herrn, ebnet in der Steppe einen Pfad für unser Gott. Jedes Tal soll aufgefüllt und jeder Berg und Hügel abgetragen wer den; was krumm ist, soll gerade, was rauh ist, zu ebenen Wegen werden!' Worte, die aufgegriffen wurden vom Mann Gottes, von Johannes den Täufer, und erst bei seinem Tode erloschen sie auf seinen Lippen.

Dies ist, ihr Menschen, die wahre Verteidigung gegen die Unglücksfälle des Lebens. Nicht Waffe gegen Waffe, Verteidigung gegen Angriff, nicht Hochmut und Grausamkeit. Sondern übernatürliche Waffen, in der Einsamkeit erworbene Tugenden, d.h. im Inneren des Individuums, wo es allein ist mit sich selbst und an seiner Heiligung arbeitet, indem es Berge de Liebe aufhäuft, Gipfel des Stolzes abträgt, krumme Wege der Begierlichkeit gerade macht und Hindernisse der Sinne von seinem Pfad räumt Dann wird die Herrlichkeit des Herrn erscheinen, und Gott wird de Menschen verteidigen gegen die Nachstellungen geistiger und leibliche Feinde. Was vermögen die wenigen Schutzgräben, Burgen und Festungen gegen die Züchtigungen Gottes, welche die Menschen durch ihre Bosheit oder Nachlässigkeit verdient haben? Gegen die Züchtigungen, die heut den Namen "Römer" tragen, während sie in vergangenen Zeiten Babylonier, Philister und Ägypter genannt wurden, und die nichts anderes sind als eine Strafe Gottes, und nur dies, die der Hochmut, die Sinnlichkeit und die Begierlichkeit des Volkes, seine Lügenhaftigkeit, seine Selbst sucht und sein Ungehorsam gegenüber dem heiligen Gesetz des Dekaloges herabgezogen haben? Der Mensch, auch der stärkste, kann schon von einer Fliege getötet werden. Auch die am besten verteidigte Stadt kann erobert werden, wenn Gott ihm oder ihr seinen Schutz entzieht; wenn de Schutz flieht, wenn man den Schutz zurückweist durch die Sünden de Menschen und ganzer Städte.

Der Prophet sagt noch: "Alles Fleisch ist Gras, all seine Pracht wie die Blume des Feldes. Das Gras verdorrt, die Blume welkt, wenn des Herr Odem sie anweht."

Weil ich es will, blickt ihr heute mitleidig auf diese hier, die ihr bis gestern als Maschinen betrachtet habt, die verpflichtet sind für euch zu arbeiten. Heute, da ich sie euch vorgestellt habe als Brüder unter Brüdern als arme Brüder unter euch Reichen und Glücklichen, seht ihr in ihnen das, was sie sind: Menschen. Verachtung und Gleichgültigkeit sind au vielen Herzen gewichen, und Mitleid ist an ihre Stelle getreten. Abe blickt auch in ihr Inneres, nicht nur auf das gequälte Fleisch. Sie haben in ihrem Inneren eine Seele, Gedanken und Gefühle wie ihr. Einst waren sie wie ihr: gesund, frei, glücklich. Dann waren sie es plötzlich nicht mehr Denn wenn das Leben des Menschen wie das Gras ist, das verdorrt, dann ist sein Wohlergehen noch hinfälliger. Die heute noch gesund sind, können morgen krank sein, die heute noch frei sind, sind morgen vielleicht

schon Sklaven, und wer heute noch glücklich ist, kann morgen schon unglücklich sein.

Gewiß sind unter diesen Schuldige. Urteilt jedoch nicht über ihre Schuld und freut euch nicht über ihre Bestrafung. Morgen könntet auch ihr aus vielen Gründen schuldig und zu harter Sühne gezwungen sein. Seid daher barmherzig, denn ihr kennt nicht euer Morgen, das so verschieden sein könnte von der Gegenwart und ihr wißt nicht, ob ihr nicht einst auf göttliche und menschliche Barmherzigkeit angewiesen sein werdet. Seid daher geneigt zur Liebe und zum Verzeihen. Es gibt keinen Menschen auf der Erde, der nicht der Verzeihung Gottes und des einen oder anderen Menschen bedürfte. Übt daher Verzeihung, damit auch euch verziehen werde.

Ferner sagt der Prophet: "Das Gras verdorrt und die Blume verwelkt, das Wort des Herrn aber bleibt ewig." Seht die Waffe und die Verteidigung: das ewige Wort, das zum Gesetz für all unsere Handlungen geworden ist.

Richtet diese wahre Schutzwehr auf gegen die bevorstehenden Gefahren, und ihr werdet gerettet sein. Nehmt daher das Wort Gottes auf, den, der zu euch spricht. Aber nehmt es nicht nur äußerlich für eine Stunde in die Mauern eurer Stadt auf, sondern in eure Herzen, für immer; denn ich bin der, der weiß und wirkt und herrscht mit Macht. Ich bin der gute Hirte, der die auf ihn vertrauende Herde weidet, der niemanden vernachlässigt, die Kleinen, die Müden und die Verwundeten, die vom Schicksal Geschlagenen und die über ihre Irrtümer Weinenden, noch den Reichen und Glücklichen, der aber alles geringschätzt um des wahren Reichtums und der wahren Glückseligkeit willen, nämlich, Gott zu dienen bis zum Tode.

Der Geist des Herrn ruht auf mir, da der Herr mich gesandt hat, den Sanftmütigen die Frohe Botschaft zu verkünden, zu heilen, die gebrochenen Herzens sind, und den Sklaven die Freiheit und den Gefangenen die Befreiung zu predigen. Man kann mich nicht einen Aufwiegler nennen, denn ich rufe nicht zum Aufstand auf, noch rate ich den Sklaven und Gefangenen zur Flucht. Vielmehr lehre ich die Menschen in der Sklaverei die wahre Freiheit, die wahre Befreiung, die nicht weggenommen und nicht beschränkt werden kann; die um so größer wird, je mehr der Mensch sich ihr hingibt: die geistige Freiheit, die Befreiung von der Sünde, die Sanftmut im Schmerz; die Fähigkeit, Gott zu schauen jenseits der Menschen, die in Ketten liegen; die Fähigkeit zu glauben, daß Gott den liebt, der ihn liebt, und dort verzeiht, wo der Mensch nicht verzeiht; die Fähigkeit zu hoffen auf einen ewigen Ort der Belohnung für den, der gut zu sein weiß im Unglück, der seine Sünden bereut und dem Herrn treu ist.

Weint nicht, ihr, zu denen ich ganz besonders spreche. Ich bin gekommen, um zu trösten, die Verworfenen aufzunehmen, Licht in ihre Finsternis und Frieden in ihre Seelen zu bringen, und denen ein Reich der Freude zu versprechen, die bereuen oder schuldlos sind. Ich bin nicht gekommen, das Gegenwärtige zu verhindern, das dem himmlischen Lohn einbringt, der sein Los trägt und dem Herrn dient.

Es ist nicht schwer, o ihr armen Söhne, dem Herrn zu dienen. Er hat euch ein leichtes Mittel gegeben, ihm zu dienen, da er euch glücklich im Himmel haben will. Dem Herrn dienen, bedeutet lieben. Liebt den Willen Gottes, weil ihr Gott liebt. Der Wille Gottes verbirgt sich auch unter den scheinbar menschlichsten Dingen. Denn – ich spreche nun zu euch, die ihr vielleicht das Blut eurer Brüder vergossen habt – wenn es zwar gewiß nicht Gottes Wille war, daß ihr Gewalt angewendet habt, so ist es doch jetzt sein Wille, daß ihr in der Sühne eure Schuld gegen die Liebe tilgt. Denn wenn es auch nicht Gottes Wille war, daß ihr euch aufgelehnt habt gegen den Feind, so ist es nun sein Wille, daß ihr euch demütigt, so wie ihr seinerzeit übermütig gewesen seid zu eurem Schaden. Denn wenn es nicht Gottes Wille war, daß ihr euch durch kleinen oder großen Betrug angeeignet habt, was euch nicht zustand, so ist es nun Gottes Wille, daß ihr bestraft werdet, um nicht mit eurer Schuld im Herzen vor Gott zu erscheinen.

Und das dürfen auch die nicht vergessen, die jetzt glücklich sind und sich sicher dünken; die in ihrer törichten Selbstsicherheit das Reich Gottes nicht in sich bereiten und in der Stunde der Prüfung wie Söhne sein werden, die fern vom Vaterhause sind, der Gewalt des Sturmes und der Geißel des Schmerzes ausgesetzt.

Übt alle Gerechtigkeit und erhebt die Augen zum Haus des Vaters, zu

Reich der Himmel, das, wenn seine Tore weit offenstehen werden durch den, der gekommen ist, sie zu öffnen, niemand abweisen wird, der Gerechtigkeit erlangt hat.

Ihr körperlich Verstümmelten, ihr Krüppel und Eunuchen, ihr geistig Verstümmelten und ihr Eunuchen der Geisteskräfte, ihr Ausgeschlossenen in Israel, fürchtet nicht, keinen Platz im Himmelreich zu finden. Die Verstümmelung, die Verkrüppelung, die Beeinträchtigung des Fleische hat ein Ende mit dem Fleisch. Die moralischen Übel, wie Gefängnis und Sklaverei, vergehen auch eines Tages; die des Geistes, die Folgen frühere Fehler, werden ausgelöscht durch guten Willen. Körperliche Verstümmelungen zählen vor den Augen Gottes nicht, und geistige verschwinden vor seinen Augen, wenn liebevolle Reue sie bedeckt.

Dem heiligen Volk nicht anzugehören, bedeutet kein Hindernis mehr dem Herrn zu dienen. Denn die Zeit ist gekommen, da die Grenzen de Erde aufgehoben sind vor dem einzigen König, dem König aller König und Völker, der alle Völker vereint zu seinem einzigen neuen Volk. Von diesem Volk sind nur jene ausgeschlossen, die den Herrn zu täuschen suchen, indem sie nur vorgeben, den Dekalog zu beachten; denn alle Menschen guten Willens können die Zehn Gebote befolgen, seien sie Hebräer

Heiden oder Götzendiener. Wo guter Wille herrscht, ist auch ein natürliches Streben nach Gerechtigkeit, und wer nach Gerechtigkeit strebt, dem fällt es nicht schwer, den wahren Gott anzubeten, wenn er ihn einmal erkannt hat, seinen Namen zu ehren, seine Feste zu heiligen, die Eltern zu ehren, nicht zu töten, nicht zu rauben, kein falsches Zeugnis zu geben, die Ehe nicht zu brechen, nicht Unzucht zu treiben und nicht zu begehren, was nicht sein eigen ist. Hat er sich bisher nicht danach gerichtet, so tue er es in Zukunft, damit seine Seele gerettet werde und er seinen Platz im Himmel erwerbe. Es steht geschrieben: "Ich werde ihnen einen Platz in meinem Haus geben, wenn sie meinen Bund halten, und ich werde sie glücklich machen." Das ist allen Menschen gesagt worden, die heiligen Willens sind, denn der Heilige der Heiligen ist der Vater aller Menschen.

Ich habe gesagt, daß ich kein Geld für diese Menschen habe, aber es wäre ihnen auch nicht von Nutzen. Euch von Gamala jedoch, die ihr schon so große Fortschritte auf dem Weg des Herrn gemacht habt seit unserer ersten Begegnung, fordere ich auf, den stärksten Schutzwall um eure Stadt zu errichten: den der Liebe untereinander und zu diesen Menschen, indem ihr ihnen in meinem Namen beisteht, während sie sich für euch abmühen. Werdet ihr das tun?»

«Ja, Herr», rufen alle im Chor.

«Dann laßt uns gehen. Ich hätte eure Stadt nicht betreten, wenn Herzenshärte mit einem "Nein" auf meine Bitte geantwortet hätte. Ihr, die ihr bleibt, seid gesegnet... Gehen wir.»

Jesus kehrt zurück auf dem Weg, der nun ganz in der Sonne liegt, und steigt zur Stadt empor, die fast wie eine Höhlenstadt in den Felsen hineingebaut ist, aber aus gut instandgehaltenen Häusern besteht und ein herrliches, abwechslungsreiches Panorama vor sich hat, ob man nun die Berge der Hauranitis, das Galiläische Meer, den fernen Großen Hermon oder das grüne Jordantal betrachtet. Die Stadt ist kühl wegen ihrer Höhenlage und den Gassen, die vor der heißen Sonne schützen. Sie gleicht fast mehr einem gewaltigen Kastell als einer Stadt, einer Reihe von Festungen, da die Häuser, die teils aus Mauerwerk bestehen, teils in den Felsen gehauen sind, das Aussehen von Burgen haben.

Auf dem Hauptplatz, der höher als alle anderen liegt – es ist der höchste Punkt der Stadt und ein weiter Ausblick auf Berge, Wälder, Seen und Flüsse erfreut hier das Auge – sind die Kranken von Gamala versammelt. Jesus geht heilend vorüber...

(Gamala liegt etwa 11 km östlich des Sees Genesareth gegenüber Magdala. Im jüdischen Krieg wurde die Stadt im Jahr 67 nach siebenmonatiger Belagerung von Vespasian eingenommen.)

 

 

 

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