JUDAS VON KERIOTH NACH SEINEM VERRAT
Ich sehe Judas. Er ist allein. Er trägt ein
hellgelbes Gewand mit einer roten Kordel als Gürtel. Meine innere Stimme sagt
mir, daß Jesus kurz zuvor gefangengenommen wurde und daß Judas, der gleich nach
der Gefangennahme geflohen ist, sich nun in einem inneren Zwiespalt befindet.
Tatsächlich gleicht Judas einem rasenden, von einer Meute Bluthunde verfolgten
wilden Tier. Jedes Seufzen des Windes in den Zweigen, jedes geringste Geräusch
auf den Wegen und selbst das Plätschern eines Brünnleins läßt ihn aufhorchen
und sich mißtrauisch und erschrocken umwenden, so als wäre ihm der
Scharfrichter schon auf den Fersen. Er dreht den gesenkten Kopf auf dem
eingezogenen Hals nach allen Seiten, schaut in alle Richtungen wie einer, der
sehen will und sich doch fürchtet zu sehen, und wenn das Spiel des Mondlichts
einen menschenähnlichen Schatten erzeugt, bedeckt er die Augen, macht einen
Sprung zurück, wird noch bleicher als er schon ist, bleibt einen Augenblick
stehen und flieht dann überstürzt zurück und schlägt einen anderen Weg ein, bis
ein neues Geräusch, ein neues Lichtspiel ihn schreckt und ihn wieder in eine
andere Richtung fliehen läßt.
Bei diesem irren Hin und Her gelangt er ins
Stadtinnere. (...)
Judas
wird von einem Hund verfolgt und angefallen.
Ein Biß hat seine Wange verletzt, genau an
der Stelle, wo er Jesus geküßt hat. Die Wange blutet, und das Blut befleckt das
gelbliche Gewand des Judas am Hals. Es bildet sozusagen ein blutiges Halsband,
da es die rote Kordel tränkt, die das Gewand am Hals zusammenhält, und sie noch
röter macht. (...)
Er geht einige Meter und befindet sich am
Eingang des Ölgartens. «Nein, nein!» schreit er, als er den Platz
wiedererkennt. Aber dann, und ich weiß nicht, welche unwiderstehliche Kraft
oder welcher teuflische Sadismus ihn zieht, geht er weiter. Er sucht den Ort
der Gefangennahme. Die von vielen Füßen aufgewühlte Erde des Pfades, das
zertretene Gras an einer bestimmten Stelle und die Blutspuren auf dem Boden,
vielleicht von Malchus, zeigen ihm an, daß er hier den Unschuldigen seinen
Schergen übergeben hat.
Er schaut und schaut ... dann stößt er einen
heiseren Schrei aus und springt zurück. Er schreit: «Dieses Blut, dieses
Blut... !» und zeigt es... -wem? – mit ausgestrecktem Arm und Zeigefinger. Im
zunehmenden Licht erscheint sein Gesicht fahl und gespenstisch. Er gleicht
einem Verrückten. Seine Augen sind aufgerissen und glänzend, wie im Delirium.
Die vom Laufen und vom Schrecken zerzausten Haare scheinen sich ihm zu
sträuben, und die Wange, die langsam anschwillt, verzieht seinen Mund zu einem
Grinsen. In seinem zerrissenen, blutbesudelten, nassen und schmutzigen Gewand –
denn der Staub hat sich durch die Nässe in Schlamm verwandelt – gleicht er
einem Bettler. Der ebenfalls schmutzige und zerrissene Mantel hängt ihm in
Fetzen von den Schultern, und er stolpert darüber, während er immer noch
schreit: «Dieses Blut, dieses Blut!» Er weicht zurück, als würde das Blut zum
Meer, dessen Flut steigt und in dem er ertrinkt. Judas fällt rückwärts und
verletzt sich den Kopf, den Hinterkopf, an einem Stein. Er stöhnt vor Schmerz
und Angst. «Wer ist da?» schreit er. Er muß glauben, jemand habe ihn
umgestoßen, um ihn zu verletzen. Er dreht sich voll Entsetzen um. Niemand. Er
steht auf. Nun tropft das Blut auch auf den Nacken. Der rote Kreis breitet sich
auf dem Gewand aus. Das Blut fällt nicht zur Erde, denn es ist wenig und wird
von seinem Gewand aufgesaugt. Nun scheint sich die rote Schlinge schon um
seinen Hals zu legen. (...)
Nun ist der Tag bereits angebrochen, und man
kann alles sofort und genau erkennen. Judas sieht den Mantel Jesu
zusammengefaltet auf dem Felsen liegen. Er erkennt ihn. Er will ihn anfassen,
hat aber Angst. Er streckt die Hand aus und zieht sie wieder zurück. Er will,
will nicht. Dieser Mantel fasziniert ihn. Er stöhnt: «Nein, nein.» Dann sagt
er: «Ja, zum Teufel! Ja, ich will ihn berühren. Ich habe keine Angst. Ich habe
keine Angst!» Er sagt, er hat keine Angst, aber seine Zähne klappern vor
Schrecken, und als über seinem Kopf ein Ast eines Ölbaumes im Wind gegen einen
Stamm schlägt, schreit er wieder auf. Dennoch zwingt er sich und ergreift den
Mantel. Und lacht. Er lacht wie ein Irrer, ein Dämon. Ein hysterisches,
stoßweises finsteres Lachen, das kein Ende nimmt, denn er hat seine Angst
überwunden. Und er sagt es: «Du machst mir keine Angst mehr, Christus, nicht
mehr. Ich hatte so große Angst vor dir, da ich an dich als einen Gott, einen
starken Gott, glaubte. Nun machst du mir keine Angst mehr, denn du bist kein
Gott. Du bist ein armer Irrer, ein Schwächling. Du konntest dich nicht
verteidigen. Du hast mich nicht zerschmettert, wie du auch den Verrat in meinem
Herzen nicht gelesen hast. Meine Ängste! ... Ich Dummkopf! Noch gestern abend,
als du sprachst, glaubte ich, du wüßtest alles. Nichts hast du gewußt. Es war
meine Angst, die deinen gewöhnlichen Worten das Gewicht von Prophezeiungen
verlieh. Du bist ein Nichts. Du hast dich verkaufen, anzeigen und wie eine Maus
in ihrem Loch fangen lassen. Deine Macht! Deine Herkunft! Ha, ha, ha, du Narr! Satan
ist der Mächtige! Stärker als du! Er hat dich besiegt! Ha, ha, ha! Der Prophet!
Der Messias! Der König Israels! Und drei Jahre hast du mich unterjocht! Immer
mit der Angst im Herzen! Ich mußte lügen, um dich geschickt zu täuschen, wo ich
doch das Leben genießen wollte! Aber selbst wenn ich ohne all die angewendete
List gestohlen und Unzucht getrieben hätte, du hättest mir nichts tun können.
Du Schwächling! Du Narr! Du Feigling! So! So! So! Ich hätte mit dir tun sollen,
was ich nun mit deinem Mantel tue, um mich für die Zeit zu rächen, die du mich
als einen Sklaven der Angst gehalten hast. Angst vor einem Hasen! ... So! So!
So!»
Bei jedem «So!» beißt Judas in den Mantel
Jesu und versucht, ihn zu zerreißen. Er zerdrückt ihn in den Händen. Aber dabei
faltet er ihn etwas auseinander und die nassen Flecken kommen zur Vorschein.
Judas hält in seinem Wüten inne. Er starrt auf die Flecken, berührt sie, riecht
an ihnen. Es ist Blut... Er faltet den Mantel ganz auseinander. Der Abdruck der
beiden blutigen Hände, mit denen Jesus den Stoff auf sein Gesicht gedrückt hat,
ist deutlich zu sehen.
«Ach... Blut! Blut! Sein Blut! ... Nein!»
Judas läßt den Mantel fallen und schaut sich um. Auch auf dem Felsen, an den
Jesus sich mit dem Rücken gelehnt hatte, als der Engel ihn tröstete, ist ein
dunkler Fleck trockenen Blutes. «Dort! ... Dort! ... Blut! Blut! ...» Er senkt
den Blick, um nichts zu sehen, und sieht das ganz von Blut gerötete Gras.
Dieses Blut, das durch den Tau noch naß ist, scheint eben erst heruntergetropft
zu sein. Es ist rot und glänzt im ersten Sonnenschein. «Nein! Nein! Nein! Ich
will es nicht sehen! Ich kann dieses Blut nicht sehen! Hilfe!» Er fährt sich
mit den Händen an den Hals und keucht, als ob er in einem Meer von Blut
ersticken würde. «Zurück! Zurück! Laß mich! Laß mich, Verfluchter! Aber dieses
Blut ist ein Meer! Es bedeckt die ganze Erde! Die ganze Erde! Die ganze Erde!
Auf der Welt ist kein Platz mehr für mich, denn ich kann dieses Blut nicht
sehen, das sie bedeckt! Ich bin der Kain des Unschuldigen!» Ich glaube, daß der
Gedanke an Selbstmord ihm in diesem Augenblick gekommen ist.
Das Gesicht des Judas ist furchterregend. Er
springt den Hang hinunter, flieht wie ein von wilden Bestien Verfolgter aus dem
Ölgarten, auf einem anderen Weg als dem, auf dem er gekommen ist, und kehrt in
die Stadt zurück. So gut es geht wickelt er sich in seinen Mantel, versucht,
die Verletzung und sein Gesicht einigermaßen zu bedecken, und läuft zum Tempel
hinauf. Aber als er sich dem Gewölbe nähert, stößt er auf den Pöbel, der Jesus
zu Pilatus schleppt. Ausweichen kann er nicht mehr, denn eine andere
Menschenmenge, die hinter ihm herbeiläuft, um etwas zu sehen, keilt ihn ein.
Und da er groß ist, größer als die meisten, kann er nicht umhin zu sehen. Und begegnet
dem Blick Christi...
Einen Augenblick schauen sie sich an. Dann
geht Jesus weiter, gefesselt und geschlagen. Judas fällt wie ohnmächtig auf den
Rücken. Die Leute treten ihn erbarmungslos, und er wehrt sich nicht. Er scheint
es vorzuziehen, von allen getreten zu werden, als diesen Blick ertragen zu
müssen.
Nachdem die gottesmörderische Meute mit dem
Märtyrer vorübergezogen und die Straße wieder leer ist, steht er auf und eilt
zum Tempel. Am Tor des Tempelbezirks stößt er mit einem Wächter zusammen und
wirft ihn beinahe um. Andere Wachen eilen herbei, um dem Rasenden den Eintritt
zu verwehren. Aber wie ein wütender Stier schlägt er sie alle in die Flucht.
Einen, der ihn umklammert und ihn hindern will, den Saal des Synedriums zu
betreten, in dem noch alle versammelt sind und diskutieren, packt er am Hals,
würgt ihn und schleudert ihn, wenn nicht tot, so doch sicher sterbend, drei
Stufen hinunter.
«Euer Geld, ihr Verfluchten, will ich
nicht!» schreit Judas und steht dabei mitten im Saal, genau an der Stelle, wo
noch vor kurzem Jesus gestanden ist. Er gleicht einem Dämon der Hölle. Blutig,
rasend, mit wirrem Haar, Schaum vor dem Mund und Händen wie Klauen schreit er,
bellt fast, so rauh, heiser und heulend ist seine Stimme. «Euer Geld, ihr
Verfluchten, will ich nicht. Ihr seid mein Verderben. Ihr habt mich die größte
Sünde begehen lassen. Wie ihr, wie ihr bin ich nun verflucht. Ich habe
unschuldiges Blut verraten. Dieses Blut und mein Tod mögen über euch kommen.
Über euch... Nein! Ach! ...» Judas sieht den blutbefleckten Boden. «Auch hier,
auch hier Blut! Überall Blut! Überall sein Blut! Ach, wieviel Blut hat das Lamm
Gottes, daß es ohne zu sterben die Erde damit bedecken kann. Und ich habe es
vergossen! Ihr habt mich dazu angestiftet! Ihr Verfluchten! Ihr Verfluchten!
Ihr auf ewig Verfluchten! Verflucht seien diese Mauern! Verflucht dieser
geschändete Tempel! Verflucht der gottesmörderische Hohepriester! Verflucht
seien die unwürdigen Priester, die falschen Gelehrten, die heuchlerischen
Pharisäer, die grausamen Juden, die arglistigen Schriftgelehrten! Fluch auch
über mich! Über mich Fluch! Über mich! Nehmt euer Geld, und möge es euch die
Seele im Leib erwürgen wie mich der Strick!» Judas wirft Kaiphas den Beutel ins
Gesicht und läuft heulend fort, während die Münzen klingend über den Boden
springen, nachdem sie den Mund des Hohenpriesters blutig geschlagen haben.
Niemand wagt es, ihn aufzuhalten. Er läuft
hinaus, irrt durch die Straßen. Und das Schicksal will es, daß er Jesus noch
zweimal begegnet, der zu Herodes geführt wird und von Herodes kommt und.
Schließlich verläßt er die Stadtmitte und verliert sich in ärmlichen Gassen,
bis er plötzlich wieder vor dem Haus des Abendmahles steht, das ganz
verschlossen ist und völlig verlassen erscheint.
Judas bleibt stehen und schaut es an. «Die
Mutter!» flüstert er. «Die Mutter... !» und bleibt unschlüssig stehen... «Auch
ich habe eine Mutter! Und ich habe den Sohn einer Mutter getötet! ... Und
doch... Ich will hineingehen... den Raum noch einmal sehen. Dort ist kein Blut...»
Er klopft an die Tür. Noch einmal... und noch einmal... Die Hausfrau kommt und
öffnet die Tür ein Stückchen. Einen Spalt... Doch als sie den verstörten,
unkenntlichen Mann sieht, schreit sie auf und versucht die Tür wieder zu
schließen. Aber Judas stößt die Tür mit der Schulter auf, schiebt die bestürzte
Frau beiseite und betritt das Haus.
Er eilt zu dem Pförtchen, das in den
Abendmahlsaal führt, öffnet es und geht hinein. Eine herrliche Sonne dringt
durch die offenen Fenster. Judas atmet erleichtert auf und geht etwas weiter.
Hier ist alles ruhig und schweigsam. Das Geschirr steht noch auf dem Tisch, wie
sie es stehengelassen haben. Man sieht, daß sich bis jetzt niemand darum
gekümmert hat. Man könnte meinen, daß man im Begriff ist, sich zu Tisch zu setzen.
Judas geht zum Tisch. Er sieht nach, ob noch
Wein in den Krügen ist. Es ist noch ein wenig darin. Er trinkt gierig gleich
aus dem Krug, den er mit beiden Händen hochhebt. Dann läßt er sich auf einen
Sitz sinken und legt den Kopf auf die auf dem Tisch gekreuzten Arme. Er bemerkt
nicht, daß er an dem Platz Jesu sitzt und daß vor ihm der für die Eucharistie
benützte Kelch steht. Einige Zeit bleibt er so sitzen, bis sich sein vom Laufen
keuchender Atem beruhigt. Dann hebt er den Kopf und sieht den Kelch. Und merkt,
wohin er sich gesetzt hat.
Wie besessen springt er auf. Doch der Kelch
fasziniert ihn. Ein wenig Rotwein ist noch auf dem Grund, und die
Sonnenstrahlen, die das silberglänzende Metall treffen, entzünden diese
Flüssigkeit. «Blut! Blut! Auch hier Blut! Sein Blut! Sein Blut!... "Tut
dies zu meinem Gedächtnis! ... Nehmt und trinkt... Dies ist mein Blut... Das
Blut des neuen Bundes, das für euch vergossen wird..." Ach, ich
Verfluchter! Für mich kann es nicht mehr vergossen werden zur Vergebung meiner
Sünde. Ich bitte nicht um Vergebung, denn er kann mir nicht verzeihen. Fort!
Fort! Es gibt keinen Ort mehr, wo der Kain Gottes Ruhe finden könnte. Der Tod!
Nur der Tod...»
Judas geht hinaus und sieht sich Maria
gegenüber, die aufrecht an der Tür des Raumes steht, in dem Jesus sich von ihr
verabschiedet hat. Sie hat ein Geräusch gehört und herausgeschaut, vielleicht
in der Hoffnung, Johannes zu sehen, der seit so vielen Stunden abwesend ist.
Sie ist so blaß, als wäre sie völlig ausgeblutet. Der Schmerz verleiht ihren
Augen noch mehr Ähnlichkeit mit denen ihres Sohnes. Judas begegnet dem Blick
dieser Augen, die ihn anschauen mit derselben wissenden und betrübten Kenntnis,
mit der Jesus ihn auf dem Weg angeschaut hat. Mit einem ängstlichen «Oh!»
weicht er an die Mauer zurück.
«Judas» sagt Maria, «Judas, wozu bist du
gekommen?» Dieselben Worte, die Jesus gesagt, und mit schmerzerfüllter Liebe
gesagt hat. Judas erinnert sich daran und schreit auf.
«Judas», fährt Maria fort, «was hast du
getan? Auf so viel Liebe hast du mit Verrat geantwortet.» Die Stimme Marias ist
eine zitternde Liebkosung.
Judas will fliehen. Maria ruft ihn mit einer
Stimme, die einen Dämon bekehren würde. «Judas! Judas! Bleib! Warte! Höre! Ich
sage dir in seinem Namen: Bereue, Judas! Er verzeiht ...» Judas ist
fortgelaufen. Die Stimme Marias und ihr Anblick sind der Anruf der Gnade, die
ihm zur Ungnade wird, da er ihr widersteht.
Er stürzt davon und begegnet Johannes, der
gerade zum Haus eilt, um Maria abzuholen. Das Urteil ist gesprochen. Jesus ist
im Begriff, den Kalvarienberg hinaufzusteigen. Es ist Zeit, daß die Mutter zu
ihrem Sohn geführt wird. Johannes erkennt Judas, obgleich von dem schönen Judas
von früher wenig übriggeblieben ist. «Du hier?» fragt Johannes mit
offensichtlichem Abscheu. «Du hier? Fluch über dich, du Mörder des Sohnes
Gottes! Der Meister ist verurteilt worden. Freue dich, wenn du kannst. Aber gib
den Weg frei. Ich gehe und hole die Mutter, und sie, dein zweites Opfer, soll
dir, du Schlange, nicht begegnen.»
Judas flieht. Er hat seinen Kopf in die
Fetzen seines Mantels gehüllt und nur für die Augen einen Spalt freigelassen.
Die Leute, die wenigen Leute, die nicht beim Prätorium sind, weichen ihm wie
einem Irren aus. Und er gleicht auch einem Irren.
Er irrt über die Felder. Ab und zu trägt ihm
der Wind ein Echo der lärmenden Menge zu, die Jesus unter Verwünschungen folgt.
Jedesmal, wenn Judas ein solches Echo hört, heult er auf wie ein Schakal.
Ich nehme an, daß er wirklich den Verstand
verloren hat, denn er schlägt den Kopf rhythmisch gegen die Steinmauern. Oder
er ist tollwütig geworden; denn jedesmal, wenn er eine Flüssigkeit sieht, sei
es nun Wasser oder Milch, die ein Kind in einem Gefäß trägt, oder Öl, das aus
einem Schlauch tropft, dann schreit er, schreit und brüllt. «Blut! Blut! Sein
Blut!»
Er will an den Bächlein und Brunnen trinken.
Aber er kann nicht, denn das Wasser scheint ihm Blut zu sein, und er sagt es
auch: «Es ist Blut! Es ist Blut! Es ertränkt mich! Es verbrennt mich! Ich habe
Feuer in mir! Sein Blut, das er mir gestern gegeben hat, ist in mir zu Feuer
geworden! Fluch über mich und über dich!»
Er geht die Hügel hinauf und hinunter, die
Jerusalem umgeben. Sein Blick wird unwiderstehlich von Golgotha angezogen.
Zweimal sieht er von weitem den Zug, der sich den Hang hinaufbewegt. Er schaut
und schreit.
Nun ist er auf dem Gipfel angekommen. Auch
Judas ist oben auf einem kleinen Hügel voller Ölbäume. Er hat ein rustikales
Pförtchen geöffnet, um dorthin zu gelangen, so als ob er der Besitzer des
Gartens wäre oder sich zumindest gut auskennen würde. Ich hatte schon früher
den Eindruck, daß Judas fremdes Eigentum sehr wenig achtet. Steif steht er
unter einem Ölbaum am Rand eines Steilhanges und schaut nach Golgotha hinüber.
Er sieht, wie die Kreuze aufgerichtet werden und begreift, daß Jesus nun
gekreuzigt ist. Er kann es nicht sehen und nicht hören. Aber das Delirium oder
ein Zauber Satans lassen ihn alles sehen und hören, als wäre er auf dem Gipfel
des Kalvarienbergs.
Er schaut, schaut als hätte er eine Halluzination.
Er schlägt um sich: «Nein! Nein! Sieh mich nicht an! Sprich nicht zu mir! Ich
ertrage es nicht! Stirb, stirb, du Verfluchter! Möge der Tod dir die Augen
verschließen, die mir Furcht einflößen, und diesen Mund, der mich verflucht!
Aber auch ich verfluche dich. Weil du mich nicht gerettet hast.»
Sein Gesicht ist so verwüstet, daß man es
nicht mehr ansehen kann. Speichel rinnt ihm aus dem schreienden Mund. Die
verletzte Wange ist blau und geschwollen und verzerrt das Gesicht. Das
verklebte Haar und der sehr dunkle, in diesen Stunden gewachsene Bart
umschatten düster Wangen und Kinn. Und die Augen! ... Sie rollen, verdrehen
sich und sprühen – ein wahrer Dämon! Er reißt die dreimal herumgewickelte
Kordel aus dicker roter Wolle von seiner Taille und prüft ihre Festigkeit,
indem er sie um einen Ölbaum schlingt und mit aller Kraft daran zieht. Sie hält
stand, ist stark. Er wählt einen für sein Vorhaben geeigneten Ölbaum. Dieser
hier, dessen zerzauste Krone über den Hang hinaushängt, ist der richtige. Er
steigt auf den Baum und befestigt ein Ende des Strickes am stärksten, ins Leere
ragenden Ast. Die Schlinge hat er schon gemacht. Ein letztes Mal schaut er nach
Golgotha, dann steckt er den Kopf in die Schlinge. Nun scheint er zwei rote
Halsbänder an der Halswurzel zu haben. Er setzt sich auf den Vorsprung. Und
plötzlich läßt er sich ins Leere fallen.
Die Schlinge zieht sich zusammen und würgt
ihn. Eine Weile schlägt er um sich, dann verdreht er die Augen, wird schwarz im
Gesicht, erstickt, öffnet den Mund. Die Adern am Hals schwellen an und werden
schwarz. In seinen letzten Zuckungen tritt er noch vier- fünfmal in die Luft.
Dann öffnet sich der Mund, die dunkle, schleimige Zunge hängt heraus und die
offenen, blutunterlaufenen Augen quellen hervor. Die Iris verschwindet nach
oben. Er ist tot. Der starke Wind, der sich vor dem Sturm erhoben hat,
schaukelt das makabere Pendel und läßt es kreisen, wie eine scheußliche Spinne
am Faden ihres Netzes.
Die Vision endet so. Und ich hoffe, daß ich
all dies bald vergessen werde, denn ich versichere Ihnen, es war eine
schreckliche Vision.