Maria Valtorta: Einführung in Leben, Werk, Bedeutung

Maria Valtorta (1897-1961) wurde in Caserta in der Nähe von Neapel geboren. Nach verschiedenen Umzügen erwarb die aus der Lombardei stammende Familie 1924 ein Haus in der Küstenstadt Viareggio nördlich von Lucca, worin Maria Valtorta bis zu ihrem Tod wohnte. Sie war das einzige Kind von Giuseppe Valtorta (1862-1935), einem Berufsoffizier der italienischen Armee, der der Familie eine gehobene soziale Stellung sicherte, und seiner Ehefrau Iside Fioranzi (1861-1943), die Französischlehrerin war. Marias Mutter war streng, herrschsüchtig und selbstsüchtig. Sie hinderte ihre Tochter an einer ihren Anlagen gemäßen Ausbildung und vereitelte eine geplante Eheschließung. Alle Herzenswärme hingegen erhielt sie von ihrem Vater, der ihre große Wißbegierde stillte, ihr die Schönheiten der Natur erschloß und mit dem sie eine scharfe Beobachtungsgabe teilte. Die familiären Konflikte belasteten ihn seelisch so sehr, daß er vorzeitig seinen Beruf aufgeben mußte.

Während ihrer Schulzeit fiel Maria Valtorta durch hohe sprachliche Begabung, Phantasie und stilistische Gewandtheit auf. Nach ihrer Schulzeit war sie – während des 1. Weltkrieges – als Krankenschwester tätig. Später trat sie in die katholische Aktion ein und widmete sich dort der Jugendarbeit und hielt Vorträge. Wegen eines schweren Rückenleidens konnte sie ab 1934 das Bett nicht mehr verlassen.

Maria Valtorta

 

1912 und 1943

 

 

 

 

Nach dem Willen Jesu, zu dem sie schon in ihrer Kindheit ein inniges Verhältnis hatte, opferte sie ihre schweren körperlichen und seelischen Leiden für Kirche und Welt auf.

Auf Anweisung ihres Seelenführers verfaßte sie im Jahre 1943 mit erzählerischer Lebendigkeit und tiefem Empfindungsvermögen eine Autobiographie, die ihre lebensbejahende, temperamentvolle Natur und ihre Fähigkeit zu religiöser Hingabe zeigt. Noch im selben Jahr erhielt sie die ersten Visionen über das Leben Jesu, die sie mit ihrer eigenen Fähigkeit der Beobachtung und Empfindung und nach Diktaten Jesu niederschrieb. In den folgenden Jahren entstanden so insgesamt 714 Kapitel, in denen Personen und Ereignisse eine zeitlich und räumlich zusammenhängende Einheit bilden.

Maria Valtortas Werk "Der Gottmensch" ist von der Kirche nicht offiziell approbiert, doch hat sich Papst Pius XII. 1948 darüber anerkennend und treffend geäußert: "Veröffentlicht dieses Werk, so wie es ist. Wer es liest, wird es verstehen."

BEDEUTUNG

Unter den zahlreichen Privatoffenbarungen der letzten Jahrzehnte ist das Werk Maria Valtortas aus drei Gründen von aktueller Bedeutung:

1.  Seit die neutestamentlichen Schriften unter historischen und literargeschichtlichen Gesichtspunkten erforscht werden, verschiebt sich die Objektivität ihrer Inhalte zu immer größerer Relativität. Die Einheit des menschgewordenen Logos und Hauptes seiner Kirche wird zerrissen in den historischen Jesus und den Christus des Glaubens. Als Folge dieser einseitigen Sichtweise schwindet die Glaubenssubstanz vieler Theologen, und das, was sich in ihrem Namen an Irrtümern und Halbwahrheiten verbreitet, wird von den Gegnern des Christentums begierig aufgegriffen und als wirksame Waffe verwendet.

Der Unglaube der meisten Exegeten zeigt sich im Ansatz darin, daß sie die Autorschaft der Evangelien eher anonymen Verfassern, Gemeinschaftskräften und literarischen Gepflogenheiten zuschreiben als den überlieferten Autoren. Das Zeugnis der Person als Kern der Glaubwürdigkeit des Evangeliums und als Quelle der Ausbreitung des christlichen Glaubens ist weitgehend aus dem Blickfeld ihrer Wissenschaft gewichen.

2.  Das heutige christliche Selbstverständnis ist durch Demokratie und Individualismus geprägt. Die daraus erwachsende Denkweise entfernt sich einerseits zunehmend von der Denkebene der kirchlichen Lehre und bringt für deren Autorität und für die Schätze kirchlicher Überlieferung (Kenntnis und Wertschätzung der Heiligen, Frömmigkeitsformen usw.) immer weniger Verständnis auf, andererseits führt sie dazu, daß gläubige Christen einen direkten Zugang zu den Evangelientexten suchen, wobei ihr Vorstellungsvermögen ihr Alltagsbewußtsein nicht weit übersteigt. Sie erwägen viele persönliche Ansichten, erfassen aber nicht die Heilsmächtigkeit der dargestellten Ereignisse und gesprochenen Worte.

3.  Heutzutage scheinen die Menschen, die einen Teil ihrer täglichen Freizeit dem Fernsehen widmen, Sinnhaftigkeit menschlichen Lebens im sinnlich Erlebbaren zu suchen. Was sich jahrhundertelange Meditation über das Leben Jesu konkret vorzustellen versuchte, ist in Maria Valtortas Werk greifbare Realität geworden. Valtortas Werk kommt dem modernen Bedürfnis für Detailgenauigkeit auf allen Wahrnehmungsebenen und für die Dramatik und Ausführlichkeit des Wortes entgegen.

Wie sollte man dieses Werk lesen? Diese Frage zu stellen ist sehr wichtig, da es – wie besonders aus englischsprachigen Internetseiten zu entnehmen – auch entschiedene Gegner hat. Folgende Orientierungspunkte könnten hilfreich sein:

1.  Das Werk sollte wie jeder andere literarischer Text vorurteilsfrei und ohne bestimmte religiöse Voreinstellung gelesen werden. Denn das ist der Vorteil von Privatoffenbarungen, daß sie keine verbindliche Lehre der Kirche darstellen. Sie wenden sich zwar an die ganze Kirche, aber ebenso an jeden Einzelnen, der in eigener Verantwortung über ihren geistlichen Nutzen entscheiden kann.

Man kann also den religiösen Charakter des Werks zunächst im Hintergrund belassen und sich je nach spontaner innerer Bereitschaft inhaltlichen Aussagen öffnen. Auf diese Weise wird ein innerer Gesamteindruck allein durch die Wirksamkeit des Wortes erzeugt.

2.  Der Leser braucht sich nicht durch die Frage beunruhigen zu lassen, ob denn das, was er liest, tatsächlich so geschehen ist. Denn wie jeder gute Roman Wahrheiten über das menschliche Leben enthält, so mag es in Valtortas Werk Unterschiede zwischen Wirklichkeit und literarischer Darstellung geben, aber beide treffen sich in ihrem inneren Wahrheitsgehalt.

Da die Aussagen von Privatoffenbarungen über das Leben Jesu, z.B. durch Maria Cäcilia Baij (1602-1665), Maria von Agreda (1694-1766) und Anna Katharina Emmerick (1774-1824), nicht selten beträchtlich voneinander abweichen, sollte man mit einiger Zurückhaltung eine einzelne Darstellungsweise als authentisch erklären. Man sollte offen bleiben für die historische Wahrheit unterschiedlicher Darstellungen, kann aber – im Vergleich der Privatoffenbarungen untereinander und mit den Evangelien – größere oder geringere Wahrscheinlichkeiten erwägen.

Es ist zu bedenken, daß sich das Wort Gottes an alle Menschen aller Zeiten richtet und sich an die Bedürfnisse und an die Vorstellungswelt einer geschichtlichen Epoche anpaßt, also auch unserer heutigen Zeit. Jesus verkündet das Evangelium nicht so sehr an diesem oder jenem Ort in Palästina und nicht mit diesen oder jenen Worten, sondern er will es überall dort wirksam werden lassen, wo er mit Menschen zusammentrifft. So können wir vielleicht sagen, authentisch sind nur Gottes Wahrheit und Liebe und das menschliche Herz. Wir dürfen aber darauf vertrauen, daß auch für Privatoffenbarungen das heilsgeschichtliche Wort Jesu gilt: Der Heilige Geist wird euch in die ganze Wahrheit einführen (Joh 16,13), so daß Valtortas Werk – als jüngste Privatoffenbarung – der geschichtlichen Wahrheit am nächsten kommt.

Überhaupt hüte man sich vor einem falschen Realismus. Die unzähligen Dialoge vernahm die Seherin in ihrer Muttersprache Italienisch. Wenn sich Jesus mit einem Römer unterhält, tat er es in der historischen Situation vielleicht auf Latein. Aber wie ist eine Gesprächssituation zu bewerten, wenn Tempelpriester Jesus das Predigen im Tempel verbieten und der einfache römische Soldat Alexander einen Einwand dagegen äußert? Sprachen die Priester etwa griechisch als lingua franca und konnte Alexander ausreichend Griechisch? Vermutlich verwendeten die Priester ihre Muttersprache, die der Römer keineswegs verstehen konnte. Wenn wir das Verständigungsproblem außer Acht lassen, bleibt als wesentliches Thema der Mentalitätskonflikt zwischen Juden und Heiden, zwischen Beherrschten und Besatzern. Darauf kommt es der göttlichen Inspiration an.

3.  Die Texte sollten mit einer sensiblen Offenheit für das Wahre, Gute und Schöne gelesen werden. Der Leser sollte bereit sein, Szenen von Liebe, Zärtlichkeit und Freundschaft innerlich anzunehmen, aber auch solche nicht als übertrieben auszuschließen, die Abgründe von Leidenschaft, Verzweiflung, Verderbnis und Haß auftun. Er sollte sich weiterhin von der Heiligkeit und Vollkommenheit göttlichen Heilswirkens berühren lassen.

4.  Dialogszenen haben eine dreifache Funktion:

       Sie zeigen lebensvolle Charaktere aus Fleisch und Blut, die durch Äußerungen ihre innere Verfaßtheit, Ängste, Hoffnungen und Gefühlsregungen kundtun.

       Falls manche dargestellte Personen einen mystischen Erfahrungsbereich haben, wird dieser in eine Sprechweise transponiert, die sich als innere Einsicht oder als Ahnung äußert.

       Sie behandeln manche theologische Themen, die in den Evangelien weniger berücksichtigt sind, z.B. Marias Absicht, ein jungfräuliches Leben zu führen, um dem in Kürze zu erwartenden Messias zu dienen.

Gegnerschaft und Vorbehalte gegen Valtortas Werk scheinen hauptsächlich auf zwei Gründen zu beruhen:

1.  Der Leser erlebt Worte und Gesten tiefster Liebe und inniger Zärtlichkeit. Menschen, deren Religiosität mit einer gewissen strengen Gefühlskontrolle einhergeht, nehmen Anstoß an zärtlichen Szenen und scheuen sich z.B. nicht, die Darstellung der Beziehung zwischen Jesus und Johannes als homosexuell zu bezeichnen.

2.  Jeder religiöse Christ formt sein Verhältnis zu Jesus aus der knappen Darstellungsweise der Evangelien. Für manche Christen geht jedoch ein Jesus zum Anfassen, wie Valtorta ihn zeigt, zu weit. Auf einen solchen Jesus können sie sich nicht einlassen und in unreflektierter emotionaler Abwehr halten sie das, was in Wirklichkeit hohe literarische Leistung ist, für sentimentalen Kitsch. Andere entdecken plötzlich ihre Treue zu den Evangelien und betrachten Valtortas Werk als ein unnötiges und unzumutbares Konkurrenzunternehmen.

In welchem Verhältnis stehen die Evangelien zum Werk Valtortas? In erster Linie handelt es sich um einen Unterschied der Textgestalt. Die Evangelien bieten auf knappstem Raum das über das Leben und Wirken Jesu, was für die Gesamtheit des christlichen Glaubens unerläßlich ist. Inhalt und Sprache verzichten daher auf entbehrliche Details. Valtortas Werk hingegen stellt Worte und Taten Jesu mitsamt ihren Begleitumständen so ausführlich dar wie es den Absichten Jesu, des Urhebers der Visionen, entspricht. Fast jedes Kapitel ist durch Beschreibung der Seherin, durch Dialogszenen und Reden ausgestaltet. Vieles, was vielleicht in den Evangelien etwas knapp ausfällt, gewinnt in seinem ausführlicheren Gewand mehr an Plastizität, Farbe und Überzeugungskraft. Viele Personen, von denen uns aus den Evangelien nichts oder sehr wenig bekannt ist, werden in einer Szene eingeführt und erscheinen später, mehr oder weniger häufig, wieder.

Auf den gläubigen Christen, den moderne Bibelforschung und antichristliches Schrifttum verunsichern, übt das Werk Valtortas vor allem diese Wirkung aus: daß die Evangelien tatsächlich authentisch sind. Manche darin enthaltene Reden sind so gewaltig, daß sie kein menschlicher Geist ersinnen könnte. Kein unbefangener Leser kann sich der inneren Glaubwürdigkeit der dargestellten Ereignisse, Personen und Worte entziehen.

Das 12-bändige Werk kann in Einzelbänden vom Parvis Verlag bezogen werden.

Leseprobe: Jesus erklärt einem jungen Mann den Begriff der Vollkommenheit.

 

Erstellt: Mai 2004

Letzte Änderung: September 2006

 

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