JOACHIM und ANNA

im Protoevangelium des Jakobus und in Privatoffenbarungen

(Übersicht)

I. Einleitung

Die einzige frühchristliche Quelle über Marias Eltern ist das sogenannte Protoevangelium des Jakobus oder Jakobsevangelium. Externe und interne Kriterien weisen auf eine Abfassungszeit um 150. Der Verfasser nennt sich Jakobus. Auch Privatoffenbarungen befassen sich mit Marias familiären Hintergrund. Vor dem Werk Der Gottmensch von Maria Valtorta (1897-1961) sind dies Das Leben der jungfräulichen Gottesmutter Maria von Maria von Agreda (1694-1766) und Marienleben nach Betrachtungen der Anna Katharina Emmerick (1774-1824). Alle drei Privatoffenbarungen bestätigen im wesentlichen die Angaben des Protoevangeliums über Marias Eltern und Kindheit. Um den Charakter von Valtortas Darstellung zu erkennen, sollen einige grundsätzliche Fragestellungen der vier Quellen erörtert werden.

II. Die Erzählung des Jakobsevangeliums

Fast einleitungslos wird über Joachim und Anna folgendes berichtet:

1.      Joachim möchte seine Gaben im Tempel von Jerusalem darbringen. Aber ein Priester namens Rubim weist ihn zurück mit der Begründung, Joachim habe keine Nachkommenschaft gezeugt.

2.      Betrübt begibt sich Joachim ohne Abschied von seiner Frau Anna in die Wüste, wo er 40 Tage und Nächte fastet und betet, um von Gott erhört zu werden.

3.      Anna klagt in ihrem Garten über ihr vermeintliches Witwenlos und ihre Kinderlosigkeit. Sie singt eine Trauerweise, die viermal eingeleitet wird mit "Wem kann ich mich vergleichen?": Die Vögel, die Tiere, das Wasser und das Land bringen Nachkommen hervor, nur sie bleibt ausgeschlossen.

4.      Ein Engel erscheint und erklärt ihr, Gott habe ihre Bitten erhört.

5.      Boten melden Anna, ihr Gemahl kehre zurück. Ihm sei der Engel des Herrn erschienen, um ihm zu sagen, seine Bitten seien erhört worden.

III. Vergleich zwischen den kanonischen Evangelien

und dem Jakobsevangelium

1.      Das Jakobsevangelium gehört zu den apokryphen Evangelien. Es wurde nicht in den Kanon der Heiligen Schrift aufgenommen. Welcher wesentliche Unterschied besteht zwischen beiden?

2.      Aufgabe der Evangelisten war es, die Botschaft Jesu so darzustellen, daß sie alles Wesentliche enthielt, was für die Ausbreitung des Reiches Gottes erforderlich war. Jede Einzelheit ist dem Inhalt und der Form nach auf dieses Ziel ausgerichtet. Was dabei entbehrlich war, wurde weggelassen. Der Evangelist ist zwar als Erzähler präsent, drängt sich aber nie in den Vordergrund oder nimmt sich auktoriale Freiheiten. Ein wahrheitsgemäßer Berichtstil kennzeichnet also die vier Evangelien.

3.      Apokryphe Schriften kann man als Parallelüberlieferungen bezeichnen. Den Verfassern sind die offiziellen Evangelientexte bekannt.

Unterhalb der Stilebene der Evangelien bestehen vielfältige Erzählformen, sowohl im profanen als auch religiösen Bereich, die ihre Eigenberechtigung behaupten: Anekdotische Einsprengsel oder einzelne Begleitumstände gelten auf dieser Ebene als erzählerische Vorzüge, die vom Leser erwartet werden. Dieser Erzählstil tendiert inhaltlich ähnlich den späteren Heiligenlegenden zu religiöser Erbauung, d.h., wunderbare Vorgänge werden nicht mit der gebotenen theologischen Sachkenntnis vorgetragen, sachlicher Bericht weicht bewundernder Wundererzählung.

Zur Erzählhaltung kann etwa folgendes festgestellt werden: Der Erzähler hat keine innere Einsicht in die rationale Logik des Übernatürlichen und versucht auch keinen Zugang dazu, weil ihm die Überzeugung fehlt. Wunderbares übernatürliches Geschehen steht für ihn von vorneherein auf einer höheren Ebene als rationales Denken und ist Kriterium für Glaubwürdigkeit an sich. Erhabene Wahrheiten wie etwa die Jungfräulichkeit Marias und ihr Jawort zur Empfängnis des ewigen Wortes werden nicht in Zweifel gezogen, doch auf einer untheologischen Ebene nachempfunden und mit allerlei burlesken Ungereimtheiten angereichert. Der Apokryphenschreiber ist darin in seinem Werk präsent, daß er wunderliche Geschehnisse verknüpft, sie aber in ihrem Eigensein bewußt beläßt, um sich so das Verdienst objektiver Weitergabe von kollektiv Erzähltem zuschreiben zu können.

Dem Verfasser des Protoevangelium erschienen überlieferte Erzählungen über Marias Familie wichtig genug, um ihnen eine literarische Gestalt zu geben. Dabei maßte er sich nicht an, ein weiteres Evangelium schreiben zu wollen, sondern glaubte, auf erzählerischer Ebene die Freiheit zu haben, Einzelheiten zu erwähnen, die sich auf der Stilebene der Evangelien verbot.

Natürlich entsteht auf diese Weise eine Diskrepanz zwischen dem, was der Erzähler vom Standpunkt legitimer Stilelemente und Erzählformen vielleicht als wertvoll oder kunstvoll hielt, und dem, was sich im Licht des sachlichen Evangelienstils als eigentlich relevant erweist.

4.      Insofern es dem Verfasser ein aufrichtiges Anliegen war, Tatsachen über Marias Biographie zu überliefern, die in den Evanglien keine Erwähnung fanden, kann und darf der heutige Leser unterscheiden zwischen ernst zu nehmenden Aussagen und unwichtigen Begleitumständen, die eher detailverliebter Erzählfreude entspringen.

IV. Das Interesse an Marias Vorleben

1.      Da die Evangelien des Matthäus und Lukas nichts über die Herkunft und die Kindheit Marias berichten, bleiben so manche Fragen des Hörers oder Lesers unbeantwortet: Wie kam dieses Mädchen zu der Ehre, Mutter des göttlichen Wortes zu werden? Wie konnte sie Ihr Jawort zur Botschaft des Engels geben? Welche Vorassetzungen waren dafür erforderlich?

Bei einigem Nachdenken wird man über Maria sagen können, daß niemand mehr als sie um die Ankunft des Messias gebetet hat, daß sie sich aber in ihrer Demut nie selbst für die Auserwählte des göttlichen Planes hielt. Auch leuchtet ein, daß sie von ihren Eltern entscheidende Voraussetzungen für ihre Veranlagung und ihre religiösen Einstellungen empfing. Die Eltern selbst waren im Heilsplan vorgesehen und mochten auf ungewöhnliche Weise zur Ehe zusammengefunden haben und Eltern Marias geworden sein. Beide Umstände sind Thema der Privatoffenbarungen Marias von Agreda und A.K. Emmericks.

2.      Die Kapitel 12 und 13 des ersten Buches der Maria von Agreda stehen ganz im Zeichen der Erwartung des Erlösers. Es fehlen gewissermaßen noch die letzten Bausteine. Zwei davon sind Joachim und Anna. Joachim stammt aus Nazareth, Anna aus Bethlehem. Beide bitten Gott um den rechten Ehegatten. Beide erhalten vom Erzengel Gabriel eine Botschaft, durch die sie für einander bestimmt werden. Nach zwanzigjähriger Kinderlosigkeit legen Joachim und Anna das Gelübde ab, daß, wenn Gott ihnen Nachkommenschaft schenke, sie diese zum Dienst im Tempel opfern wollten.

Als ein Jahr später Joachims Opfer im Tempel zurückgewiesen wird, verstärken er und Anna jeder für sich ihre Gebete um Nachkommenschaft. Wiederum erscheint beiden der Erzengel Gabriel, um ihnen mitzuteilen, sie würden mit einer Tochter gesegnet werden, der sie den Namen Maria geben sollten. Gabriel offenbart Anna das Geheimnis, daß Maria die Mutter des Erlösers werden solle.

3.      Im Vergleich zu Maria von Agredas theologisch geprägter Darstellung ist die A.K. Emmericks voller erzählerischer Details. Annas Eltern leben in Mara in der Gegend des Berges Horeb und stehen der Gemeinschaft der Essener nahe. Anna begibt sich wie später ihre Tochter Maria in den Dienst des Tempels. Mit 19 Jahren heiratet sie auf Anraten des amtierenden Propheten der Essener den mit seinen Eltern in die Gegend gezogenen Joachim. A.K. Emmericks ausladende Erzählung stimmt im wesentlichen mit der Darstellung Marias von Agreda überein.

V. Maria Valtortas Darstellung

1.      Zwischen den beiden genannten Darstellungsweisen und der M. Valtortas bestehen wesentliche Unterschiede: Erstere erlauben gewissermaßen eine Blick hinter die Kulissen. Der Leser erfährt, was am himmlischen Hof vor sich geht, was dort beschlossen wird und welche Rolle die Engel in der Steuerung des Heilsgeschehens spielen. Mystische Visionen sind für die dargestellten Personen eine selbstverständliche Realitätsebene.

Valtortas Darstellung zeigt konkretes Verhalten von Menschen in Reden und Tun. Übernatürliches Geschehen zwischen Mensch und Gott bleibt meistens ausgespart, es zeigt seine Wirkung nach außen in konkreten Verhaltensweisen.

2.      Valtortas Version von Joachim und Anna stellt ein ausgesprochenes Kontrastprogramm zu den früheren Darstellungen dar. Die einzelnen Kapitel sind dramaturgisch sorgfältig aufeinander abgestimmt: Situative Momentaufnahmen wechseln ab mit Kommentaren Jesu.

3.      Wem Annaselbdritt-Darstellungen den Eindruck von Anna als einer betagten Greisin vermitteln, der gewinnt bei Valtorta eine völlig andere Vorstellung: Anna ist von stattlicher Gestalt, ihr Gang wird "fürstlich" genannt. Die Szene mit dem kleinen Alphäus zeigt eine spontane warmherzige Frau mit Sinn für Scherz und Spiel. Die Begegnungen zwischen Anna und Joachim sind erfüllt von vertraulicher Liebe, die auch nach vielen Ehejahren nichts von ihrem ersten Zauber verloren haben. In seinem Kommentar nennt Jesus Joachim und Anna ein Vorbild ehelicher Liebe.

4.      Valtortas Vision fehlt die dramatische Zurückweisung Joachims im Tempel. Gebetserhörungen treten nur sehr verhalten in Erscheinung: Joachim erhält keine explizite Zusicherung, Anna teilt während ihres Aufenthaltes in Jerusalem ihrem Gemahl einen Traum mit, hält aber die entscheidende Vision zurück, die sie im Tempel erhalten hat. Sie wird – als dramaturgischer Kunstgriff? – später nachgeholt, nachdem Anna Gewißheit über ihre Schwangerschaft erlangt hat.

Über das Geschlecht des Kindes herrscht zwischen den Ehegatten noch keine Klarheit, über seinen Namen entscheiden sie selbst.

5.      Valtorta schätzt Annas Alter vor der Empfängnis ihrer Tochter auf 50-55 Jahre. Die Texte vermitteln eher den Eindruck, daß Anna ihre natürliche Gebärfähigkeit noch nicht überschritten hat.

Wie Joachim und Anna mit ihrer langjährigen Kinderlosigkeit zurechtkamen, wird nur angedeutet: In der Gewißheit ihrer ehelichen Liebe und in der Bemühung um ein rechtschaffenes Leben gaben sie trotz vorrückendem Alter ihre Hoffnung auf Nachkommenschaft nicht auf.

 

Die von mir benutzten Quellen sind:

Erich Weidinger, Die Apokryphen. Verborgene Bücher der Bibel. Pattloch 1985. Aschaffenburg

Maria von Agreda, Leben der jungfräulichen Gottesmutter Maria. 4 Bde. Übersetzt aus dem Spanischen von Schwester Assumpta Volpert. Miriam-Verlag 19825. Jestetten

Clemens Brentano, Das Marienleben. Nach den Betrachtungen der Anna Katharina Emmerick. Herausgegeben und bearbeitet von Claire Brautlacht. Verlag Butzon & Bercker. 19614. Kevelaer.

Juli 2006

 

Texte