DAS GEBET ANNAS IM TEMPEL WIRD ERHÖRT

Kap.3

Außerhalb der Mauern von Jerusalem auf den Hügeln und zwischen den Ölbäumen hat sich eine große Menschenmenge niedergelassen. Es scheint ein riesiger Marktplatz zu sein. Aber man sieht keine Tische und Buden. Auch hört man nicht die Stimmen von Marktschreiern und Verkäufern. Keine Spiele. Es sind da sehr viele Zelte aus rauher, sicher wasserundurchlässiger Leinwand, die über Pfähle, die im Boden befestigt sind, gezogen ist. Von den Pfählen hängen grüne Zweige herab, die zur Zierde und zur Erfrischung dienen. Andere Zelte bestehen ganz aus Zweigen, die im Boden befestigt wurden und so miteinander verbunden sind, daß sie kleine, grüne Lauben bilden. Unter jedem dieser Zelte befinden sich Menschen jedes Alters und jedes Standes. Ihre Gespräche sind friedvoll und gesammelt, höchstens von einem Kinderschrei unterbrochen.

Die Nacht bricht herein, und schon leuchten da und dort, in diesem eigenartigen Lager, Öllaternen auf. Um diese Lichter versammelt nehmen einige Familien ihre Abendmahlzeit ein; man sitzt auf dem Boden, die Mütter mit ihren Kleinen auf dem Schoße. Viele Kinder schlafen ermüdet ein, oft noch ein Stück Brot zwischen den rosigen Fingerchen, und lassen ihre Köpfchen auf die Brust der Mutter sinken, wie Kücken unter der Henne. Die Mütter beenden ihre Mahlzeit, so gut sie es können, mit der freien Hand, während die andere das Kind an ihr Herz drückt. Andere Familien hingegen sind noch nicht bei der Mahlzeit. Man spricht im Halbdunkel miteinander und wartet darauf, daß das Essen bereit sei. Kleine Feuer brennen hier und dort, und um sie herum sind die Frauen beschäftigt. Ein Wiegenlied, langsam, fast klagend gesungen, wiegt ein noch unruhiges Kind in den Schlaf.

Oben in der Höhe ein schöner, heiterer Himmel, der immer dunkelblauer wird, bis er einem gewaltigen Theaterzeltdach aus weichem, schwarzblauem Samt gleicht, auf dem unsichtbare Künstler und Dekorateure ganz allmählich Perlen und Lichter erscheinen lassen; einige einzeln, andere in bizarren, geometrischen Gebilden, unter denen der große und der kleine Bär mit ihren Wagenformen hervorstechen, die Wagenstangen auf dem Boden aufgestützt und die Zugtiere ausgespannt. Der Polarstern strahlt in vollem Glanz.

Ich erfahre, daß es Oktober ist, denn eine kräftige Männerstimme sagt: «Der heurige Oktober ist von einer seltenen Schönheit!»

Sieh da, Anna kommt von einem Feuer. Sie trägt verschiedene Dinge auf einem breiten, flachen Brotfladen, der ihr als Teller dient. An ihren Kleidern hängt Alphäus, dessen Kinderstimmchen hörbar ist. Joachim beeilt sich, die Laterne anzuzünden, als er Anna sieht. Er hatte auf der Schwelle seiner kleinen Laubhütte mit einem dreißigjährigen Mann gesprochen, den Alphäus von weitem mit einem Schrei als Papa begrüßt hat.

Anna schreitet in fürstlichem Gang durch die Reihen der Zelthütten. Fürstlich und doch bescheiden. Sie sieht auf niemanden stolz herab. Sie richtet den Kleinen einer armen, sehr armen Frau auf, der ihr gerade vor die Füße gefallen ist, als er bei seinem hastigen Laufen stolperte; und da er sich das Gesichtchen beschmutzt hat und weint, reinigt und tröstet sie ihn und übergibt ihn der herbeieilenden Mutter mit den Worten: «Oh, es ist nichts! Ich freue mich, daß er sich nicht weh getan hat. Welch ein schönes Kind! Wie alt ist es?»

«Drei Jahre. Er ist das Zweitjüngste; aber in Kürze werde ich noch ein Kind bekommen. Jetzt habe ich sechs Knaben und deshalb hätte ich gerne ein Mädchen... Für eine Mutter bedeutet ein Mädchen viel...»

«Der Allerhöchste hat dich sehr beschenkt, Frau!» Anna seufzt.

Die andere: «Ja, ich bin arm, aber die Kinder sind unsere Freude, und die größeren helfen schon bei der Arbeit mit. Und du, Herrin (daß Anna aus vornehmen Kreisen kommt, erkennt die Frau an ihrem ganzen Benehmen), wie viele Kinder hast du?»

«Keine»

«Keine?! Ist das nicht das deinige?»

«Nein, es gehört einer braven Nachbarin; es ist mein Trost...»

«Sind sie dir gestorben, oder ...»

«Ich habe nie Kinder gehabt.»

«Oh!» Die arme Frau schaut sie mitleidig an. Anna grüßt sie mit einem tiefen Seufzer und geht zu ihrer Sippe.

«Ich habe auf mich warten lassen, Joachim. Eine arme Frau hat mich aufgehalten, eine Mutter von sechs Knaben, denke dir! Und in Bälde wird sie noch ein Kind bekommen.»

Joachim seufzt.

Der Vater von Alphäus ruft seinen Buben; aber dieser antwortet: «Ich bleibe bei Anna. Ich helfe ihr.» Alle lachen.

«Laß ihn nur! Er ist uns keine Last. Er ist noch nicht zur Einhaltung des Gesetzes verpflichtet. Hier oder dort. Er ist wie ein Vöglein, das gefüttert wird», sagt Anna und setzt sich nieder mit dem Kind auf dem Schoß. Sie gibt ihm Brotkuchen und, wie mir scheint, gerösteten Fisch. Ich sehe, daß sie letzteren zubereitet, bevor sie ihn ihm gibt. Vielleicht nimmt sie die Gräten heraus. Vorher hat sie ihren Gemahl bedient. Sie selbst ißt als letzte.

Die Nacht wird immer sternenklarer und die Lichter im Lager immer zahlreicher. Dann erlöschen allmählich viele Lichter. Es beginnt bei jenen, die zuerst ihr Abendbrot eingenommen haben und die jetzt schlafen gehen. Auch der Lärm schwindet langsam. Kinderstimmen sind nicht mehr zu hören. Nur der eine oder andere Säugling läßt sein Stimmchen vernehmen wie ein Lämmlein, das nach der Muttermilch verlangt. Die Nacht breitet ihren Atem über Personen und Dinge und verwischt Mühen und Erinnerungen, Hoffnungen und Sorgen; aber vielleicht leben diese jetzt im Traum neu auf.

Während Anna Alphäus wiegt, der anfängt, auf ihren Armen einzuschlafen, sagt sie zu ihrem Gatten: «Letzte Nacht habe ich geträumt, daß ich im nächsten Jahr für zwei Feste in die heilige Stadt kommen werde, anstatt für eines allein. Und ein Fest wird die Opferung meines Kindes im Tempel sein... Oh! Joachim! ...»

«Hoffe, hoffe, Anna! Hast du sonst nichts vernommen? Hat dir der Herr nichts ins Herz geflüstert?»

«Nichts. Es war nur ein Traum...»

«Morgen ist der letzte Gebetstag. Alle Opfer sind bereits dargebracht, aber wir werden die Gebete morgen nochmals feierlich wiederholen. Wir wollen Gott überwältigen mit unserer treuen Liebe. Ich denke immer, dir wird es wie der Anna des Elkana ergehen.»

«So Gott will... und ich möchte auch jemandem begegnen, der mir sagt: "Geh in Frieden! Der Gott Israels hat dir die Gnade gewährt, um die du ihn bittest!"»

«Wenn die Gnade kommt, wird dein Kind es dir sagen, wenn es sich das erste Mal in deinem Schoße regt. Es wird die Stimme der Unschuld sein, daher die Stimme Gottes.»

Jetzt schweigt das Lager in der Finsternis. Auch Anna bringt Alphäus in die Nachbarhütte zurück und legt ihn aufs Heu neben die kleinen Brüder, die bereits schlafen. Dann legt sie sich neben Joachim nieder, und auch ihr Lämpchen erlöscht. Eines der letzten Sternchen der Erde. Viel schöner leuchten die Sterne am Firmament, die über die Schlafenden wachen.

 

 

 

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