JESUS
UND DIE HEIDEN IN BETHANIEN
Kap 244, zweites Lehrjahr, nach dem Osterfest
Jesus hält sich bei in Bethanien auf dem Gut des Lazarus auf.
In seiner Nähe sind nur einige lautlose Schmetterlinge und
ein paar schleichende Eidechsen, die ihn mit ihren Schalkaugen betrachten und
das dreieckige Köpfchen vom hellen, klopfenden Hals abheben. Sonst nichts. In
dieser späten Nachmittagsstunde schweigt auch der leiseste Windhauch zwischen
den hohen Halmen.
Von fern, vielleicht aus dem Garten des Lazarus, ertönt
das Lied einer Frau, und mit diesem vermischt, das fröhliche Lachen eines
spielenden Kindes. Dann eine, zwei und schließlich drei Stimmen, die rufen:
«Meister! Jesus!»
Jesus schüttelt sich und steht auf. Obgleich der Flachs,
der schon am Ende seines Reifens scheint, sehr hoch ist, überragt Jesus nun
doch dieses grün-blaue Meer.
«Dort ist er, Johannes», schreit der Zelote.
Nun hört man Johannes rufen: «Mutter, der Meister ist am
Flachsfeld!»
Während Jesus sich auf dem Weg nähert, der zu den Häusern
führt, kommt Maria herbei.
«Was willst du, Mutter?»
«Mein Sohn, es sind Heiden angekommen mit einigen Frauen.
Sie sagen, sie hätten von Johanna erfahren, daß du hier bist. Sie sagen auch,
sie hätten dich in all diesen Tagen bei der Burg Antonia erwartet ...»
«Ah, ich verstehe! Ich komme sofort. Wo sind sie?»
«Im Haus des Lazarus, in seinem Garten. Er ist bei den
Römern beliebt; er verabscheut sie nicht wie wir. Er ließ sie mit ihren Wagen
in den großen Garten fahren, um jedes Ärgernis zu vermeiden.»
«In Ordnung, Mutter! Es sind römische Soldaten und Damen.
Ich weiß es.»
«Was wollen sie von dir?»
«Was viele in Israel nicht wollen: Licht!»
«Aber für was halten sie dich? Für Gott, vielleicht?»
«Auf ihre Art, ja. Für sie ist es einfach, die Idee der
Menschwerdung eines Gottes in einem sterblichen Leib anzunehmen; leichter als
für uns.»
«Dann glauben sie also an dich...»
«Noch nicht, Mama! Zuerst muß ich ihren Glauben zerstören.
Vorerst bin ich für sie ein Weiser, ein Philosoph, wie sie sagen. Aber, ob es
nun das Verlangen, philosophische Lehren kennenzulernen, oder ihre Neigung, die
Inkarnation eines Gottes für möglich zu halten, ist, es hilft mir, sie zum
wahren Glauben zu führen. Glaube mir, sie sind in ihren Gedanken weit
unverdorbener als viele in Israel.»
«Aber sind sie auch aufrichtig? Man sagt, daß der Täufer
...»
«Nein, wenn es nach ihnen gegangen wäre, dann wäre
Johannes frei und in Sicherheit. Wer sich nicht auflehnt, den lassen sie in
Frieden. Vielmehr, bei ihnen ist der Prophet oder, wie sie sagen, der Philosoph
– denn die Erhabenheit der übernatürlichen Weisheit ist für sie eine
Philosophie – hochgeachtet. Sei nicht besorgt, Mama! Von dort erfahre ich
nichts Böses ...»
«Aber die Pharisäer... wenn sie davon hören, was werden
sie von dir und von Lazarus sagen? Du bist du und mußt das Wort in die Welt
tragen. Aber Lazarus! ... Sie kränken ihn schon zu oft ...»
«Aber er ist unantastbar. Sie wissen, daß er von Rom
beschützt wird.»
«Ich verlasse dich, mein Sohn! Hier kommt Maximinus; er
führt dich zu den Heiden.»
Maria, die an der Seite Jesu geschritten war, zieht sich
rasch zurück und begibt sich ins Haus des Zeloten, während Jesus durch ein
offenes eisernes Türchen einen abgelegenen Teil des Gartens betritt. Hier liegt
der Obstgarten und ungefähr die Stelle, an der Lazarus begraben werden wird.
Da steht nun auch Lazarus, sonst niemand. «Meister, ich
habe mir erlaubt, sie zu bewirten...»
«Du hast recht getan. Wo sind sie?»
«Im Schatten der Buchs- und Lorbeerbäume. Wie du siehst,
sind sie mindestens fünfhundert Schritte vom Haus entfernt.»
«Gut, gut! Das Licht möge euch allen leuchten!»
«Sei gegrüßt, Meister!» Quintilianus ist es, der
bürgerlich gekleidet ist.
Die Damen erheben sich zur Begrüßung. Es sind Plautina, Valeria, Lydia und eine ältere, die ich nicht kenne und von
der ich auch nicht weiß, ob sie ebenbürtig oder untergeordnet ist. Alle sind
sehr einfach gekleidet; nichts unterscheidet sie voneinander.
«Wir möchten dich anhören; du bist nie gekommen. Ich hatte
Wachdienst bei deiner Ankunft. Aber ich habe dich nicht gesehen.»
«Ich habe den Soldaten auch nicht gesehen, der am Fischtor
mein Freund wurde. Er hieß Alexander ...»
«Alexander? Ich weiß nicht genau, wer es ist. Ich weiß
nur, daß wir vor kurzem einen namens Alexander ablösen mußten, um die Juden zu
beruhigen; einen Soldaten, der beschuldigt wurde, mit dir gesprochen zu haben.
Er ist jetzt in Antiochia. Vielleicht kommt er wieder zurück. Uff! Wie lästig
sie doch sind! Sie wollen auch jetzt noch befehlen, wo sie unterworfen sind.
Man muß sehr vorsichtig sein, damit nichts Schlimmes passiert... Sie machen uns
das Leben schwer, glaub es mir. Du aber bist gut und weise. Wirst du zu uns
sprechen? Vielleicht muß ich bald Palästina verlassen. Ich möchte etwas hören,
das mich an dich erinnert.»
«Ja, ich werde mit euch sprechen. Ich enttäusche nie. Was
möchtet ihr erfahren?»
Quintillianus blickt die Damen fragend an...
«Was du willst», sagt Valeria. Plautina steht auf und
erklärt: «Ich habe viel nachgedacht... Ich müßte vieles kennenlernen... alles, um
urteilen zu können. Aber wenn es erlaubt ist zu fragen, möchte ich wissen, wie
ein Glaube aufgebaut wird – deiner zum Beispiel – auf einem Erdreich, das nach
deinen Worten keinen wahren Glauben besitzt. Du hast gesagt, daß, was wir
glauben, wertlos sei. Es bleibt uns also nichts. Wie können wir zu etwas
gelangen?»
«Ich werde etwas als Beispiel nehmen, das auch ihr habt:
die Tempel. Eure Heiligtümer sind wirklich schön. Ihre einzige Unvollkommenheit
ist, daß sie dem Nichts geweiht sind. Sie können euch aber lehren, wie man zu
einem wahren Glauben kommen kann. Also: Wo werden sie errichtet? Welcher Ort
wird, wenn möglich, für sie gewählt? Wie werden sie gebaut? Der Ort ist meist
weiträumig, gut zugänglich und etwas erhöht. Ist er es nicht, dann schafft man einen;
man reißt nieder, was stört und einengt. Wenn er nicht erhöht ist, wird eine
Erhöhung, die höher ist als die drei Stufen, die bei Tempeln auf natürlichen
Erhebungen üblich sind, errichtet. Eingeschlossen in den heiligen Bezirk, der
aus Säulengängen und Höfen besteht, befinden sich die den Göttern heiligen
Bäume, Brunnen und Altäre, Statuen und Stelen, die die eigentliche Kultstätte
umgeben, an der die Gebete für die vermeintliche Gottheit verrichtet werden.
Gegenüber liegt die Opferstätte; denn das Opfer geht dem Gebet voraus. Oftmals,
und besonders in den großartigsten Tempeln, umgibt sie das Peristylium, die
Zelle der vermeintlichen Gottheit und das rückwärtige Vestibulum. Marmor,
Statuen, Fassaden, Stuck und Verzierungen, alles reich, kostbar und dekorativ,
lassen den Tempel auch dem ungebildeten Betrachter erhaben erscheinen. Ist es
nicht so?»
«So ist es, Meister! Du hast sie gesehen und sehr gut
studiert», bestätigt und lobt Plautina.
«Aber er hat doch noch nie Palästina verlassen! ?» ruft Quintillianus aus.
«Ich bin noch nie in Rom oder Athen gewesen. Aber ich
kenne die römische und griechische Architektur, und im Genius des Menschen, der
den Parthenon ausgeschmückt hat, war ich gegenwärtig; denn ich bin überall, wo
Leben und Zeichen des Lebens sind. Dort, wo ein Weiser denkt, ein Steinmetz
meißelt, ein Dichter dichtet, eine Mutter über einer Wiege singt, ein Mann sich
mit einer Furche abmüht, ein Arzt mit Krankheiten kämpft, ein Lebender atmet,
ein Tier lebt, ein Baum hochwächst: dort bin ich mit ihm, von dem ich komme. Im
Donnern des Erdbebens und im Zucken der Blitze, im Schein der Sterne oder in
den Gezeiten der Meere, im Fluge des Adlers oder im Summen der Fliege, bin ich
gegenwärtig mit dem allerhöchsten Schöpfer!»
«Somit... Du... du weißt alles? Auch die Gedanken und das
menschliche Tun kennst du?» fragt noch Quintillianus.
«Ich kenne sie!»
Die Römer sehen sich verblüfft an. Es folgt ein langes
Schweigen; dann bittet Valeria schüchtern: «Lege uns deine Gedanken genauer
aus, Meister, damit wir wissen, was wir tun müssen.»
«Ja! Den Glauben baut man auf wie die Tempel, auf die ihr
so stolz seid. Man schafft Platz für den Tempel, man macht die Umgebung frei
und man erstellt eine Erhöhung.»
«Aber den Tempel, in dem man den Glauben, die wahre
Gottheit, unterbringt, wo ist er?» fragt Plautina.
«Glaube ist keine Gottheit, Plautina. Er ist eine Tugend.
Es gibt keine Götter im wahren Glauben. Es gibt nur einen einzigen und wahren
Gott!»
«Dann ist er also dort oben in seinem Olymp allein? Und
was tut er, wenn er allein ist?»
«Er genügt sich selbst, er ist besorgt um alles in der
ganzen Schöpfung. Ich habe dir schon gesagt, daß Gott auch im Summen der Mücke
gegenwärtig ist. Er langweilt sich nicht; zweifle nicht daran. Er ist kein
armer Mensch, Herr eines riesigen Reiches, in dem er sich gehaßt weiß und
zitternd lebt. Er ist die Liebe und lebt, um zu lieben. Sein Leben ist
fortwährend Liebe. Er genügt sich selbst, denn er ist unendlich und allmächtig;
er ist die Vollkommenheit. Aber es gibt so viele erschaffene Dinge, die durch
sein beständiges Wollen leben, daß er gar keine Zeit hat, sich zu langweilen.
Die Langeweile ist die Frucht des Müßiggangs und des Lasters. Im Himmel des
wahren Gottes gibt es keinen Müßiggang und keine Laster. Aber bald wird ihm
nicht nur von den Engeln, die ihm dienen, sondern auch von einem Volk der
Gerechten zugejubelt werden, und immer mehr wird dieses Volk anwachsen durch
die künftig an den wahren Gott Glaubenden.»
«Die Engel sind wohl die Schutzgeister?» fragt Lydia.
«Nein. Es sind geistige Wesen, wie Gott es ist, der sie
erschaffen hat.»
«Und was sind dann die Schutzgeister?»
«So wie ihr sie euch vorstellt, sind sie nur Lüge. Sie
existieren nicht, so wie ihr sie euch vorstellt. Aber der Mensch hat einen
instinktiven Drang, nach der Wahrheit zu suchen. Den Anstoß gibt die Seele, die
auch in den Heiden lebt und in diesen leidet, weil ihr Verlangen nicht gestillt
wird; sie hungert in ihrer Sehnsucht nach dem wahren Gott, an den sie sich
erinnert in ihrem Körper, in dem sie wohnt und der von einem heidnischen Geist
geleitet wird. Auch ihr habt gespürt, daß der Mensch nicht nur Leib ist und daß
seinem vergänglichen Leib etwas Unsterbliches innewohnt. Und so haben es die
Städte und die Nationen vernommen. Daher glaubt ihr, fühlt ihr, daß es
notwendigerweise Schutzgeister gibt. Und ihr gebt euch den individuellen
Schutzgeist: den der Familie, der Stadt, der Nation. Ihr habt den Schutzgeist
von Rom. Ihr glaubt an den Schutzgeist des Kaisers. Und ihr betet sie an als
niedrigere Götter. Nehmt den wahren Glauben an. Erkennt und befreundet euch mit
dem wahren Engel, dem ihr Verehrung, aber nicht Anbetung erweist. Nur Gott wird
angebetet.»
«Du hast gesagt: "Der Anstoß der Seele, die auch in
den Heiden lebt und gegenwärtig ist, und die leidet, weil sie enttäuscht
wird." Aber die Seele, woher kommt sie?» fragt Publius Quintillianus.
«Von Gott. Er ist der Schöpfer!»
«Aber werden wir nicht vom Weib durch Vereinigung mit dem
Mann geboren? Auch unsere Götter wurden so erzeugt.»
«Eure Götter gibt es nicht! Es sind Täuschungen eures
Denkens, das das Bedürfnis hat, zu glauben. Und dieses Bedürfnis ist zwingender
als das Atmen. Auch wer sagt, daß er nicht glaubt, glaubt. An irgendetwas
glaubt man. Die Tatsache allein, daß er sagt: "Ich glaube nicht an Gott",
setzt einen anderen Glauben voraus. Den Glauben an sich selbst oder mehr noch,
an seinen eigenen hochmütigen Verstand. Aber an etwas glaubt man immer. Das ist
wie der Gedanke. Wenn ihr sagt: "Ich will nicht denken" oder
"Ich glaube nicht an Gott", so zeigt ihr mit diesen beiden Sätzen,
daß ihr denkt und daß ihr nicht an den glauben wollt, von dem ihr wißt, daß er
existiert. Über den Menschen müßtet ihr sagen, um den Begriff genau
auszudrücken: "Der Mensch wird erzeugt wie alle Tiere durch eine Vereinigung
zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen. Die Seele aber, also das, was den
Menschen vom unvernünftigen Tier unterscheidet, kommt von Gott. Er erschafft
sie jedesmal, wenn ein Mensch erzeugt, oder besser gesagt, empfangen wird in
einem Schoße und Gott die Seele in dieses Fleisch senkt, das sonst nur Tier
wäre."»
«Und auch wir haben sie? Wir Heiden? Was man von deinen
Landsleuten hört, scheint eher das Gegenteil zu bestätigen», sagt Quintillianus
ironisch.
«Jeder von der Frau Geborene hat sie.»
«Du hast aber gesagt, daß sie durch die Sünde getötet
wird. Wie kann sie dann in uns Sündern lebendig sein?» fragt Plautina.
«Ihr sündigt nicht gegen den Glauben, da ihr glaubt, den
wahren Glauben zu besitzen. Wenn ihr aber die Wahrheit erkennt und im Irrtum
verharrt, dann sündigt ihr. Gleicherweise sind Dinge, die für die Israeliten
Sünde sind, keine Sünde für euch; denn kein göttliches Gesetz verbietet sie
euch. Sünde ist, wenn sich jemand wissentlich gegen die von Gott gegebene
Ordnung auflehnt und sagt: "Ich weiß, daß das, was ich tue, schlecht ist;
aber ich will es trotzdem tun." Gott ist gerecht. Er kann nicht jemand
bestrafen, der Böses tut im Glauben, daß es gut sei. Er bestraft jene, die
gelernt haben, das Gute vom Bösen zu unterscheiden, und trotzdem das Böse wählen
und darin verharren.»
«Also ist die Seele in uns lebendig und gegenwärtig?»
«Ja.»
«Und sie leidet? Glaubst du wirklich, daß sie sich an Gott
erinnert? Wir erinnern uns nicht einmal mehr an den Leib, der uns getragen hat.
Wir können nicht sagen, wie es darin aussah. Die Seele, wenn ich recht
verstanden habe, ist geistigerweise von Gott gezeugt worden. Kann sie sich denn
an diesen erinnern, wenn der Körper sich nicht mehr an den langen Aufenthalt im
Schoße der Mutter erinnert?»
«Die Seele ist nicht tierisch, Plautina. Sie ist ewig,
geistig und Gott ähnlich. Ewig vom Augenblicke an, da sie von Gott erschaffen
wird, während Gott der vollkommene Ewige ist und daher weder Anfang noch Ende
hat. Die Seele, hellsichtig, intelligent und geistig, ein Werk Gottes, erinnert
sich ihres Ursprungs. Sie leidet, weil sie nach Gott verlangt, dem wahren Gott,
von dem sie kommt, und sie hungert nach Gott. Daher drängt sie den trägen
Körper, sich Gott zu nähern.»
«Also haben auch wir eine Seele wie sie, die ihr die
Gerechten eures Volkes nennt? Wirklich eine ebensolche?»
«Nein, Plautina. Es kommt darauf an, was du sagen willst.
Wenn du sagen willst: gemäß Herkunft und Natur ist sie in allem der Seele
unserer Heiligen gleich. Wenn du sagen willst: was die Bildung betrifft, so muß
ich dir sagen, daß sie anders ist. Und wenn du weiter sagen willst:
hinsichtlich der vor dem Tod erreichten Vollkommenheit, dann kann ein absoluter
Unterschied bestehen. Aber dies betrifft nicht nur euch Heiden. Auch ein Sohn
dieses Volkes kann im künftigen Leben absolut verschieden von einem Heiligen
sein.
Die Seele erlebt drei Phasen. Die erste ist die
Erschaffung, die zweite die Wiedergeburt und die dritte die Vollkommenheit. Die
erste ist bei allen Menschen gleich. Die zweite ist den Gerechten eigen, die
mit ihrem Willen die Seele zu einer vollständigen Wiedergeburt führen, wobei
sie ihre guten Werke mit der Güte des Werkes Gottes vereinigt; sie erhebt
dadurch eine schon geistige Seele in einen vollkommeneren Stand, und stellt so
zwischen der ersten und der dritten Etappe eine Verbindung her. Die dritte ist
den Seligen, oder wenn es euch besser gefällt, den Heiligen eigen, die tausend-
und abertausendfach die ursprüngliche, dem Menschen entsprechende Seele höher
gebracht und aus ihr das gemacht haben, was sie befähigt, in Gott zu ruhen...»
«Wie können wir Raum, Freiheit und Erhöhung für die Seele schaffen ?»
«Durch die Ausschaltung aller unnützen Dinge in eurem Ich.
Durch dessen Befreiung von allen falschen Ideen und, mit dem sich so ergebenden
Schutt, durch den Aufbau des Hügels für den heiligen Tempel. Die Seele muß auf
den drei Stufen immer höher hinaufgetragen werden.
Oh, ihr Römer, liebt die Symbole! Betrachtet die drei
Stufen im Lichte des Symbols. Sie können euch ihre Namen sagen: Buße, Geduld,
Beharrlichkeit; oder Demut, Reinheit, Gerechtigkeit; oder: Weisheit,
Großherzigkeit, Barmherzigkeit; so ergibt sich der herrliche Dreiklang: Glaube,
Hoffnung, Liebe. Betrachtet noch das Symbol der Umfassungsmauer, die den Platz des
Tempels ziert und machtvoll umgürtet. Auch die Seele ist abzuschirmen, die
Königin des Körpers, Tempel des ewigen Geistes ist, mit einer Mauer, die sie
schützt, die das Eindringen des Lichtes nicht hindert, die aber die Sicht auf
alles Häßliche ausschaltet. Eine sichere Mauer, vom Wunsch der Liebessehnsucht
gemeißelt, das niedere Streben von Fleisch und Blut dem Höheren, dem Geist
dienstbar zu machen. Mit dem Willen zugerichtet durch Abschleifen der Kanten,
der Unebenheiten, der Flecken und Schwachstellen vom Marmor unseres Ichs, damit
die Umgebung der Seele vollkommen werde. Gleichzeitig kann die Mauer zum Schutz
des Tempels den Unglücklicheren barmherzige Zuflucht bieten, die nicht wissen,
was die Liebe ist. Die Vorhallen: das Sich-Ergießen der Liebe, der
Barmherzigkeit und des Willens, andere zu Gott zu führen; die Vorhallen sind
liebenden Armen gleich, die sich wie ein Schleier über die Wiege eines
Waisenkindes ausbreiten. Und jenseits der Mauern die schönsten, duftenden
Pflanzen, als Ehrenbezeugung an den Schöpfer. Sät auf dem nackten Erdreich und
pflegt dann die Pflanzen: die Tugenden jeder Art, als zweites, lebendiges und
blühendes Gehege rings um das Heiligtum, und zwischen den Pflanzen, zwischen
den Tugenden, die Brunnen: wiederum Liebe, nochmals Reinigung: bevor ihr euch
dem Allerheiligsten nähert und zum Altar hinaufsteigt, muß das Opfer des
Aufgebens aller Sinnlichkeit und jeder Unkeuschheit erbracht werden. Dann
weiter zum Altar schreiten, um das Opfer aufzulegen, und dann erst die Halle,
das Vestibül durchschreitend, sich zur Zelle begeben, in welcher
Gott ist. Und die Zelle, was wird sie sein? Ein Überfluß geistiger Reichtümer;
denn nichts ist zuviel, um Gott zu ehren.
Habt ihr verstanden? Ihr habt mich gefragt, wie man den
Glauben aufbaut. Ich habe euch geantwortet: auf dieselbe Weise, wie man einen
Tempel errichtet! Ihr seht, wie wahr es ist! Habt ihr mich noch etwas zu
fragen?»
«Nein, Meister. Ich glaube, daß Flavia die Dinge, die du
gesagt hast, niederschrieb. Claudia möchte sie auch kennenlernen. Hast du
geschrieben?»
«Jedes Wort», erwidert die Frau und überreicht die
Wachstäfelchen.
«Das wird uns bleiben, damit wir es wieder lesen können»,
sagt Plautina.
«Es ist auf Wachs, die Schrift kann ausgelöscht werden.
Schreibt es in eure Herzen, dann wird es nicht mehr ausgelöscht.»
«Meister, wir sind umgeben von unnützen Tempeln. Wir
vertauschen sie mit deinem Wort und begraben sie. Aber es wird eine Arbeit von
langer Dauer sein», sagt Plautina mit einem Seufzer. Und sie endet: «Gedenke
unser in deinem Himmel!»
«Geht beruhigt, ich werde es tun! Euer Besuch hat mich
erfreut! Leb wohl, Publius Quintillianus! Denk an Jesus von Nazareth!»
Die Frauen grüßen und entfernen sich als erste. Dann geht
Quintillianus in Gedanken versunken. Jesus sieht ihnen nach, wie sie sich in
Begleitung von Maximinus zu den Wagen begeben.
«Was denkst du, Meister?» fragt Lazarus.
«Daß es viele Unglückliche auf der Welt gibt.»
«Und ich bin einer von diesen.»
«Warum, mein Freund?»
«Weil alle zu dir kommen, nur Maria nicht. Ist sie also
der größte Trümmerhaufen?»
Jesus blickt ihn an und lächelt.
«Du lächelst? Schmerzt es dich nicht, daß Maria sich nicht
bekehrt? Schmerzt es dich nicht, daß ich leide? Martha weint seit Montagabend.
Wer war jene Frau? Weißt du, daß wir einen ganzen Tag gehofft haben, daß sie es
sei?»
«Ich lächle, weil du ein ungeduldiges Kind bist. Und ich
lächle, weil ich denke, daß ihr Kraft und Tränen verschwendet. Wenn es sie
gewesen wäre, dann hätte ich mich beeilt, es euch zu sagen.»
«Sie war es also nicht?»
«Oh! Lazarus...»
«Du hast recht. Geduld! Und noch einmal Geduld! ... Hier,
Meister, die Schmuckstücke, die du mir zum Verkaufen gegeben hast. Sie sind zu
Geld geworden für die Armen. Sie waren sehr schön... von einer Frau.»
«Sie waren von "jener" Frau.»
«Das habe ich mir gedacht. Oh, wären sie doch von Maria
gewesen!... Aber sie... aber sie... Ich verliere die
Hoffnung, mein Herr!»
Jesus schließt ihn wortlos in seine Arme. Dann sagt er
nach einer Weile: «Ich bitte dich, über die Schmuckstücke gegenüber allen zu
schweigen. Sie muß verschwinden vor Bewunderungen und Gelüsten, wie die vom
Wind verwehte Wolke, ohne daß eine Spur von ihr im Himmelsblau zurückbleibt.»
«Sei beruhigt, Meister... und als Gegendienst bringe mir
Maria, unsere unglückliche Maria ...»
«Der Friede sei mit dir, Lazarus. Was ich versprochen
habe, das halte ich.»