JESUS SPRICHT MIT DEM SOLDATEN ALEXANDER AM FISCHTOR
aus Kap.123: Oktober, 1. Lehrjahr
Wieder ein Sonnenaufgang. Wieder das ungeduldige Warten der
Esel und der Händler vor dem verschlossenen Tore. Wieder sehe ich Jesus mit
Simon und Johannes. Die Händler erkennen und umringen sie. Auch ein Wachsoldat kommt
herbei, als das Tor geöffnet wird; als er Jesus sieht, grüßt er: «Sei gegrüßt,
Galiläer! Sag diesen Unruhigen, sie sollen weniger rebellisch sein! Sie
beklagen sich über uns. Zudem, sie sind immer ungehorsam und verwünschen uns.
Dazu behaupten sie noch, das gebiete ihnen ihre Religion. Was ist das für eine
Religion, die auf Ungehorsam gegründet ist?»
«Habe Nachsicht mit ihnen, Soldat.
Sie sind wie Menschen, die in ihrem Hause einen ungebetenen Gast haben, der
stärker ist als sie selbst. Die Zunge und der Trotz sind ihre einzigen Waffen.»
«Ja, doch wir haben unsere Pflicht
zu erfüllen, und so müssen wir sie bestrafen. Dadurch werden wir immer mehr zu
unerwünschten Gästen.»
«Du hast recht. Du mußt deine
Pflicht tun. Doch tue sie immer mit Menschlichkeit. Denke immer: "Was
würde ich an ihrer Stelle tun?" Du wirst sehen, dann wirst du Mitleid für
die Unterdrückten empfinden.»
«Ich höre dich gerne reden. Du
kennst weder Verachtung noch Hochmut. Die anderen Palästinenser spucken nach
uns, beleidigen uns und zeigen ihre Abscheu gegen uns; außer, wenn es darum
geht, uns gehörig übers Ohr zu hauen, sei es wegen einer Frau, sei es bei einem
Geschäft. Dann verursacht das römische Geld keinen Ekel.»
«Der Mensch ist Mensch, Soldat!»
«Und er ist falscher als der Affe.
Es ist nicht angenehm, unter Menschen zu leben, die stets wie Schlangen auf der
Lauer liegen. Auch wir haben unsere Familien, unsere Mütter, Frauen und Kinder,
und das Leben ist uns teuer.»
«Siehst du, wenn jeder daran
dächte, gäbe es keinen Haß mehr. Du hast gefragt: "Was haben sie für eine
Religion?" Ich antworte dir: eine heilige Religion, deren erstes Gebot die
Liebe zu Gott und zu dem Nächsten fordert; eine Religion, welche Gehorsam dem
Gesetz gegenüber lehrt, selbst wenn dieses von einem feindlichen Staate gegeben
wurde.
Denn hört, meine Brüder in Israel,
nichts geschieht ohne Gottes Zulassung. Auch die Unterdrückungen: ein Unglück
ohnegleichen für ein Volk; doch wenn dieses Volk sich prüfen würde, müßte es
sozusagen immer zugeben, daß es alles so gewollt hat mit seiner gottwidrigen
Art zu leben. Denkt an die Propheten!
Wie oft haben sie darüber
gesprochen! Wie oft haben sie an den vergangenen, gegenwärtigen und künftigen
Ereignissen nachgewiesen, daß der Beherrscher die Züchtigung bedeutet, die
Zuchtrute auf den Schultern des undankbaren Sohnes. Und wie oft haben sie
gelehrt, wie man die Strafe abwenden kann: durch die Rückkehr zum Herrn. Nicht
Aufstände oder Kriege heilen die Wunden, stillen die Tränen und lösen die
Ketten; nur das Leben in der Gerechtigkeit. Dann kommt Gott zu Hilfe. Und was
können die Waffen und die Heere der Bewaffneten ausrichten gegen die
Herrlichkeit der Engelscharen, die für die Gerechten kämpfen? Werden wir
bestraft? Leben wir in der wahren Gotteskindschaft, so daß der Herr keinen
Grund mehr zum Strafen hat? Beschwert eure Ketten nicht immer mit neuen Sünden!
Handelt nicht so, daß die Heiden euch als religionslos oder als heidnischer als
sie selbst wegen eures Lebens halten. Zeigt euch als das Volk, das von Gott
selbst das Gesetz erhalten hat. Befolgt es! Lebt so, daß die Unterdrücker sich
vor euren Ketten verneigen und sagen: "Sie sind uns unterworfen, doch sie
sind größer als wir, groß nicht der Zahl, dem Geld, den Waffen, der Macht nach:
es ist eine Größe, die ihren Ursprung in Gott hat. Hier erstrahlt die göttliche
Vaterschaft eines vollkommenen, heiligen und mächtigen Gottes. Hier sieht man
das Merkmal einer wahrhaften Gottheit, die in ihren Kindern zum Ausdruck
kommt." Denkt darüber nach, so gelangt ihr zur Wahrheit des wahren Gottes
und entfernt euch vom Irrtum. Jeder, auch der Ärmste, auch der Ungebildetste im
Volke Gottes, kann einem Heiden Lehrer sein: Lehrer durch seine Lebensart; er
kann durch die Werke eines heiligen Lebens den Heiden Gott verkünden. Geht, der
Friede sei mit euch!»
«Judas hat sich verspätet, und
auch die Hirten», bemerkt Simon.
«Erwartest du jemand, Galiläer?»
fragt der Soldat, der aufmerksam zugehört hat.
«Freunde.»
«Komm in den kühlen Torgang! Die
Sonne brennt schon in den ersten Tagesstunden. Gehst du in die Stadt?»
«Nein, ich kehre nach Galiläa
zurück.»
«Zu Fuß?»
«Zu Fuß. Ich bin arm.»
«Hast du eine Frau?»
«Ich habe eine Mutter.»
«Auch ich... Komm, wenn du uns
nicht verachtest wie die anderen!»
«Nur die Sünde erregt in mir
Abscheu.»
Der Soldat betrachtet Jesus
nachdenklich und voller Bewunderung. «Mit dir werden wir nie Schwierigkeiten
haben... Über dir wird sich nie das Schwert erheben. Du bist ein guter Mensch.
Aber die anderen... !»
Jesus ist nun im Halbschatten des
Torganges. Johannes schaut in Richtung Stadt. Simon hat sich auf einen
Steinblock gesetzt, der als Bank dient.
«Wie heißt du?»
«Jesus.»
«Ach, dann bist du es, der bei den
Kranken Wunder wirkt?! Ich nahm an, daß du nur ein Magier seiest. Auch wir haben
einen, und zwar einen guten. Denn es gibt da welche... Doch die unseren heilen
keine Krankheiten. Wie machst du das?»
Jesus lächelt und schweigt.
«Wendest du magische Formeln an?
Hast du Salben aus dem Mark der Toten, Pulver aus getrockneten Schlangen,
magische Steine aus den Höhlen der Pythonschlangen?»
«Nichts von alledem. Ich habe nur
meine Macht.»
«Dann bist du ein wahrer Heiliger.
Wir haben die Magier und die Vestalinnen, und einige von diesen vollbringen
wunderbare Dinge; man sagt, daß sie die heiligsten sind. Aber glaubst du das?
Sie sind schlimmer als die anderen.»
«Warum verehrt ihr sie denn?»
«Weil... nun ja, weil es die
Religion von Rom ist. Und wenn ein Untertan die Religion seines Staates nicht
achtet, wie kann er dann Caesar und das Vaterland und alle die anderen Dinge
achten?»
Jesus schaut den
Soldaten fest an. «Wahrlich, du bist auf dem Wege der Gerechtigkeit schon
fortgeschritten. Mach so weiter, Soldat, und es wird dir gelingen, das zu
erkennen, was deine Seele ahnt, ohne daß du ihm einen Namen geben kannst.»
«Die Seele? Was ist das?»
«Wenn du stirbst, wohin gehst du
dann?»
«Das weiß ich nicht. Wenn ich als
Held sterbe, komme ich auf den Scheiterhaufen der Helden; wenn ich als armer
Greis, als ein Nichts, sterbe, dann verfaule ich vielleicht in meiner Hütte
oder am Rande einer Straße.»
«Dies gilt für den Leib. Doch die Seele, wohin geht sie?»
«Ich weiß nicht, ob alle Menschen
eine Seele
haben oder nur jene, welche Jupiter nach einem ruhmvollen Leben für die Gefilde
der Seligen bestimmt, wenn er sie nicht zu sich auf den Olymp führt, wie es bei
Romulus der Fall war.»
«Alle Menschen haben eine Seele. Sie ist es, die den Menschen vom
Tier unterscheidet. Möchtest du sein wie ein Pferd, wie ein Vogel, wie ein
Fisch? ... Ein Fleisch, das nach dem Tode nur noch Fäulnis ist?»
«O nein! Ich bin ein Mensch und
bin froh, einer zu sein.»
«Also bist du ein Mensch mit einer
Seele.
Ohne diese wärest du nur ein sprechendes Tier.»
«Und wo ist sie? Wie ist sie?»
«Sie hat keinen Körper. Doch sie
existiert. Sie ist in dir. Sie kommt von dem, der die Welt erschaffen hat, und
kehrt nach dem Tode des Körpers zu ihm zurück.»
«Zum Gott Israels nach eurer
Religion.»
«Zum einzigen Gott, dem Einen, dem
höchsten Herrn und Schöpfer des Universums!»
«Hat auch ein armer Soldat wie ich
eine Seele,
die zu Gott zurückkehrt?»
«Ja, auch ein armer Soldat, und
seine Seele
wird Gott zum Freunde haben, wenn sie immer gut war, oder aber Gott zum
Richter, wenn sie böse war.»
«Meister, hier kommt Judas mit den
Hirten und mit Frauen. Wenn ich recht sehe, ist auch das Mädchen von gestern
dabei», sagt Johannes.
«Ich gehe, Soldat. Lebe als guter
Mensch!»
«Werde ich dich nicht mehr sehen?
Ich möchte noch manches wissen...»
«Ich werde bis September in
Galiläa bleiben. Wenn du kannst, komme! In Kapharnaum oder in Nazareth werden
dir alle über mich Auskunft geben können. In Kapharnaum frage nach Simon
Petrus. In Nazareth nach Maria des Joseph. Sie ist meine Mutter. Komm nur, ich
werde dir vom wahren Gott sprechen.»
«Simon
Petrus... Maria des Joseph... Ich werde kommen, sobald ich kann. Und wenn du zurückkommst, dann
erinnere dich des Alexander. Ich gehöre zur Truppenabteilung von Jerusalem.»
Alexander bittet Jesus, ein
schwerverletztes Kind zu heilen.