Jesus heilt einen römischen Soldaten.

aus Kap.568: Oktober, 3. Lehrjahr

Jesus ist noch in den Bergen. Außer den Aposteln und Jüngern folgt ihm viel Volk, und darunter befinden sich auch Jünger, die früher Hirten waren und die sie vielleicht in einem Dörflein, durch das sie gekommen sind, getroffen haben. Jesus steigt durch ein Tal zu einem Berg hinauf, auf einer Straße, die mit ihren Windungen dem Fuß des Hanges folgt und gewiß von den Römern gebaut wurde – den unverwechselbaren Steinplatten und dem guten Zustand nach zu schließen, die man nur bei römischen Straßen vorfindet. Leute kommen und gehen, ins Tal hinunter oder vom Tal hinauf zu der Bergkette, deren Höhen von Dörfern und Städten gekrönt sind. Manch einer der Vorübergehenden sieht Jesus, fragt, wer er sei, und schließt sich an. Andere betrachten ihn nur, wieder andere schütteln den Kopf und grinsen.

Ein Trupp römischer Soldaten holt sie ein mit schwerem Schritt und Klirren von Waffen und Panzern. Sie wenden sich um und schauen Jesus an, der gerade die römische Straße verläßt und in einen... jüdischen Weg einbiegt, der zu einem Dorf auf dem Bergkamm führt. Es ist ein holpriger, schlammiger Weg, denn es hat geregnet, und entweder gleitet der Fuß auf den Steinen aus oder er tritt in eine Pfütze. Die Soldaten, die wohl in die gleiche Stadt gehen wollen, setzen sich nach einem kurzen Halt wieder in Bewegung, und das Volk ist gezwungen, sich an den Rand des sehr schmalen Weges zu drücken, um den Trupp vorüberzulassen, der in strenger Formation marschiert. Die eine oder andere beleidigende Bemerkung wird laut, aber die Disziplin in der Kolonne verbietet es den Soldaten, entsprechend zu antworten.

Jetzt sind sie wieder in der Nähe Jesu, der etwas zur Seite gegangen ist, um sie vorübermarschieren zu lassen, und sie mit seinem sanften Blick anschaut, und das Leuchten seiner saphirblauen Augen scheint zu segnen und zu liebkosen. Die verschlossenen Gesichter der Soldaten hellen sich auf und ihr kaum merkliches Lächeln bringt nicht Hohn, sondern vielmehr einen respektvollen Gruß zum Ausdruck.

(...)

Der Diener will gerade antworten, als der Führer der römischen Manipel den Hang heruntergelaufen kommt. Er bleibt vor Jesus stehen.

«Salve! Du bist der Nazarener?»

«Ich bin es. Was willst du von mir?»

Die Anhänger Jesu eilen herbei in der Annahme, es sei weiß Gott was geschehen...

«Eines Tages hatte eines unserer Pferde einen hebräischen Knaben getreten, und du hattest ihn geheilt, um zu verhindern, daß sich die Hebräer gegen uns auflehnten. Jetzt haben die Steine der Juden einen unserer Soldaten verletzt, und er liegt mit einem gebrochenen Bein da. Ich kann mich nicht aufhalten, denn ich bin im Dienst. Niemand im Dorf will ihn aufnehmen. Gehen kann er nicht, und ich kann ihn mit dem gebrochenen Bein nicht mitschleppen. Ich weiß, daß du uns nicht verachtest, wie alle anderen Juden es tun...»

«Du möchtest also, daß ich den Soldaten heile?»

«Ja. Du hast auch den Diener des Centurio geheilt und das Kind der Valeria. Du hast Alexander geschützt vor dem Zorn deiner Landsleute.

Diese Dinge sind überall bekannt.»

«Gehen wir zu dem Soldaten.»

«Und meine Herrin?» fragt der Knecht unzufrieden.

«Später.» Jesus folgt dem Offizier, der in größter Eile voranschreitet mit seinen langen nervigen Beinen, die nicht von lästigen Gewändern behindert werden.

Aber wenngleich er allen vorauseilt, findet er doch Gelegenheit, ein Wort an Jesus zu richten, der gleich hinter ihm geht: «Ich war früher einmal mit Alexander zusammen. Er... Er sprach von dir. Der Zufall hat mich in diesem Augenblick zu dir geführt.»

«Der Zufall? Warum sagst du nicht Gott, der wahre Gott?»

Der Soldat schweigt einen Augenblick. Dann sagt er leise, so daß nur Jesus ihn hören kann: «Der wahre Gott wäre der Gott der Hebräer... Aber es ist nicht leicht, ihn zu lieben, wenn er so ist wie die Hebräer! Nicht einmal mit einem Verwundeten haben sie Mitleid...»

«Der wahre Gott ist der Gott der Hebräer und der Römer, der Griechen, der Araber, der Parther, der Skythen, der Iberer, der Gallier, der Kelten, der Libyer und der Nordländer. Es gibt nur einen Gott! Aber viele kennen ihn nicht, und andere kennen ihn nicht richtig. Wenn alle ihn gut

kennen würden, wären sie untereinander wie Brüder, und es gäbe weder Gewalt noch Haß, noch Verleumdung, Rache, Ausschweifungen, Diebstähle, Morde, Ehebrüche und Lügen. Ich kenne den wahren Gott und bin gekommen, damit man ihn kennenlernt.»

«Man sagt... Wir müssen immer die Ohren offenhalten und den Centurionen Bericht erstatten, und diese dann dem Prokonsul. Man sagt, du seist Gott. Ist das wahr?» fragt der Soldat sehr unruhig, schaut Jesus aus dem Schatten seines Helmes an und scheint fast Angst zu haben.

«Ich bin es.»

«Beim Jupiter! So ist es also wahr, daß die Götter herabsteigen, um mit den Menschen zu sprechen? Ich habe unter den Feldzeichen die ganze Welt durchstreift, und nun, da ich schon alt bin, komme ich hierher und finde einen Gott!»

«Den Gott, den einzigen Gott, nicht einen Gott», verbessert Jesus.

Aber der Soldat ist völlig außer Fassung bei dem Gedanken, vor einem Gott herzuschreiten... Er spricht nicht mehr... Er denkt nach. Er denkt nach, bis sie am Eingang des Dorfes den Trupp Soldaten stehen sehen, der den auf der Erde liegenden, klagenden Verwundeten umgibt.

«Sieh», sagt der Offizier kurz und bündig.

Jesus schafft sich Platz und nähert sich. Das Bein ist mehrfach gebrochen, der Fuß ist nach innen gedreht und schon blau und geschwollen. Der Mann muß große Schmerzen haben, und als er sieht, daß Jesus die Hand ausstreckt, fleht er: «Tue mir nicht weh!»

Jesus lächelt, berührt mit den Fingerspitzen nur leicht die Stelle, an der ein bläulicher Kreis auf den Bruch hinweist, und sagt dann: «Erhebe dich!»

«Aber er hat einen zweiten Bruch, weiter oben, nahe der Hüfte», erklärt der Offizier und will damit sicher sagen: «Berührst du nicht auch diese Stelle?»

Jesus schaut auf den zu seinen Füßen liegenden Römer: «Und du, kannst du glauben?»

«Ich ja! Was soll ich tun?»

«Erhebe dich!»

«Gib acht, Camillus ...» sagt sogleich der Offizier. Aber der Soldat steht schon auf den Füßen, munter und geheilt.

Die Israeliten rufen nicht Hosanna; der Geheilte ist ja kein Hebräer. Vielmehr scheinen sie unzufrieden zu sein, oder wenigstens machen sie Gesichter, die ihr Mißfallen über Jesu Handlungsweise zeigen. Ganz anders die Soldaten. Sie ziehen ihre kurzen, breiten Schwerter aus der Scheide und schwingen sie in der aschgrauen Luft, nachdem sie damit auf die Schilde geschlagen haben, als wollten sie einen festlichen Lärm erzeugen. Jesus befindet sich inmitten eines Kreises blanker Schwerter.

Der Offizier schaut ihn an. Er weiß nicht, was er sagen oder tun soll, er, der Mensch neben einem Gott, er, der Heide neben Gott... Er denkt nach und findet, daß er vor Gott wenigstens das tun muß, was er vor Caesar tun würde, und befiehlt den dem Kaiser gebührenden militärischen Gruß. (Wenigstens glaube ich, daß es das ist, denn ich höre ein mächtiges «Ave!», während die mit gestrecktem Arm fast horizontal hochgehaltenen Klingen blitzen.) Noch nicht zufrieden damit sagt der Offizier leise: «Geh ruhig deines Weges, auch zur Nachtzeit. Die Straßen sind alle bewacht. Zum Schutz gegen Diebe. Du kannst in Sicherheit gehen. Ich ...»Dann stockt er und weiß nicht mehr, was er sagen soll.

Jesus lächelt ihm zu und spricht: «Danke. Geh und sei gut. Sei auch menschlich gegenüber Dieben. Sei treu in deinem Dienst, aber nicht grausam. Es sind unglückliche Menschen, und sie werden vor Gott für ihre Taten Rechenschaft ablegen müssen.»

«Ich werde es sein. Salve! Ich würde dich gerne einmal wiedersehen...»

Jesus schaut ihm tief in die Augen und sagt dann: «Wir werden uns wiedersehen. Auf einem anderen Berg.» Abermals wiederholt er: «Seid gut. Lebt wohl.»

Die Soldaten marschieren weiter...

 

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