«DIE LIEBE IST DAS
GEHEIMNIS UND DAS GEBOT DER HERRLICHKEIT»
Kap.310
Jesus sagt
bei Matthäus 11,29: "Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich
bin sanft(mütig) und demütig von Herzen." Die Bearbeiter der Einheitsübersetzung
taten sich mit der traditionellen Übersetzung "sanftmütig und demütig von
Herzen" schwer. Sie meinten, beide Ausdrücke seien veraltet, sie würden
das Bild eines weichlichen und milden Jesus im Nazarenerstil des 19. Jh. vermitteln.
Die erste Fassung der Einheitsübersetzung formulierte daher gütig
und selbstlos, die endgültige Fassung kehrte zwar zu Luthers
Formulierung und Wortstellung von Herzen demütig zurück,
ließ aber gütig stehen. Andere Sprachen haben hier keine
Änderungen vorgetragen: Das griechische praýs und
lateinische mitis wird im Englischen durch gentle
(Jerusalem Bible), im Französischen durch doux, im
Italienischen durch mite, im Spanischen durch manso jeweils
in der Grundbedeutung sanft wiedergegeben.
Der Ereigniszusammenhang ist folgender: Matthäus ist durch die
Unvorsichtigkeit eines Jungen am Fuß verletzt worden und befindet sich mit den
übrigen Aposteln in Kapharnaum, wohin sich Jesus von Chorazim aus begibt, um
gemeinsam den Sabbath zu feiern. Er hat in Chorazim einer Witwe, deren Ehemann
kurz zuvor starb, tatkräftig geholfen. In Jesu Begleitung befindet sich der
älteste Sohn der Witwe und Manaen, ein hoher Beamter des Herodes, der Jesus und
seine Lehre näher kennen lernen möchte.
Jesus beginnt seine Unterweisung mit einem Gleichnis, entwickelt dann das
nicht einfach zu verstehende Bild vom Joch der Hoffnung und faßt am Ende beide
Lehren zu den Aussagen des Matthäusevangeliums zusammen:
Jesus nimmt den Knaben zwischen sich und Manaen und geht
schnell durch die Felder nach Kapharnaum, wo die Apostel schon eingetroffen
sind.
Die Apostel sitzen auf der Terrasse im Schatten der
Pergola um Matthäus herum und berichten dem Kameraden, der noch nicht geheilt
ist, von ihren Erlebnissen. Sie drehen sich beim leisen Geräusch, das die
Sandalen auf der Treppe verursachen, um und sehen das blonde Haupt Jesu, das
hinter der Mauer der Terrasse auftaucht. Sie eilen ihm entgegen, er lächelt
ihnen zu... und sie bleiben überrascht stehen, weil sie hinter Jesus einen
kleinen Knaben erblicken. Manaen kommt würdevoll in seinem weißen Linnengewand
herauf, das nun noch viel schöner wirkt mit dem kostbaren Gürtel und dem
feuerroten Mantel aus gefärbter Leinwand, der wie Seide glänzt, ihm lässig über
die Schultern herabfällt und beinahe eine Schleppe bildet; mit der
Kopfbedeckung aus Byssus, die von einem goldenen Diadem gehalten wird und der
verzierten Scheibe, welche die hohe Stirne schmückt und ihm das Aussehen eines
ägyptischen Königs verleiht. Seine Anwesenheit verhindert eine Lawine von
Fragen, die ihre Augen aber sehr deutlich ausdrücken.
Doch nach gegenseitiger Begrüßung setzen sich die Apostel
um Jesus herum und fragen: «Und dieses Kind?» Sie deuten dabei auf den Knaben.
«Es ist meine letzte Eroberung. Ein kleiner Joseph;
Zimmermann wie der große Joseph, der mein Vater gewesen ist. Deswegen ist er
mir so lieb, wie auch ich ihm lieb bin. Nicht wahr, Kind? Komm her, daß ich
dich mit meinen Freunden bekanntmache, von denen du schon so viel gehört hast. Dies
hier ist Simon Petrus, der Mann, der am liebsten von allen zu den Kindern ist.
Und dies ist Johannes, ein großer Knabe, der dir auch beim Spielen von Gott
erzählen wird. Dies ist Jakobus, sein Bruder, ernst und gut wie ein älterer
Bruder. Und dies ist Andreas, der Bruder des Simon Petrus; du wirst dich gleich
mit ihm vertragen, denn er ist sanft wie ein Lamm. Und dann hier Simon, der
Zelote; er liebt die vaterlosen Kinder sehr und würde bestimmt durch die ganze
Welt ziehen, um sie zu suchen, wenn er nicht bei mir wäre. Und dieser hier ist
Judas des Simon und neben ihm sind Philippus von Bethsaida und Nathanael. Schau
nur, wie sie dich ansehen! Sie haben auch Kinder und lieben die Kinder. Das
sind meine Brüder Jakobus und Judas. Sie lieben alles, was ich liebe, also
werden sie auch dich lieben. Nun gehen wir zu Matthäus, der an einer Wunde am
Fuß leidet und nicht böse auf die Kinder ist, die ihn bei ihrem ausgelassenen
Spiel versehentlich mit einem spitzen Stein getroffen haben. Nicht wahr,
Matthäus?»
«O nein, Meister! Ist er der Sohn der Witwe?»
«Ja! Er ist sehr gut, aber immer noch sehr traurig.»
«Oh, armes Kind! Ich werde den kleinen Jakob rufen
lassen, und du wirst mit ihm spielen.» Matthäus streichelt ihn und zieht ihn
mit einer Hand zu sich hin.
Jesus beendet die Vorstellung mit Thomas, der, praktisch
wie er ist, dem Kind eine Weintraube anbietet, die er vom Weinstock genommen
hat.
«Nun seid ihr Freunde», schließt Jesus und setzt sich
wieder hin, während das Kind an seinen Trauben lutscht und Matthäus antwortet,
der es in seiner Nähe behält.
«Aber wo bist du denn die ganze Woche allein gewesen?»
«In Chorazim, Simon des Jonas.»
«Das weiß ich. Aber was hast du dort getan? Bist du bei
Isaak gewesen?»
«Isaak, der Alte, ist gestorben.»
«Was hast du dann getan?»
«Hat es dir Matthäus nicht gesagt?»
«Nein! Er hat nur gesagt, daß du dich vom Tag unserer
Abreise an in Chorazim aufgehalten hättest.»
«Matthäus ist viel tüchtiger als du. Er kann schweigen,
du aber kannst deine Neugier nicht beherrschen.»
«Nicht die meinige allein, sondern die von uns allen.»
«Nun ja, ich bin nach Chorazim gegangen, um die in die
Tat umgesetzte Nächstenliebe zu predigen.»
«Die in die Tat umgesetzte Nächstenliebe? Was willst du
damit sagen?» fragen viele.
«In Chorazim lebt eine Witwe mit fünf Kindern und einer
alten kranken Frau. Der Mann ist unversehens an der Hobelbank gestorben und hat
viel Elend und unfertige Arbeit zurückgelassen. Chorazim hat kein bißchen
Mitleid mit dieser unglücklichen Familie. Ich bin hingegangen, um die Arbeiten
zu vollenden und...»
Es kommt zu einem großen Durcheinander. Die einen fragen,
die anderen protestieren. Einer tadelt Matthäus, weil er es zugelassen hat; ein
anderer bewundert Jesus und wieder ein anderer tadelt ihn. Doch Kritik und
Proteste sind leider in der Überzahl.
Jesus läßt sich den Sturm legen, so wie er entstanden
ist, und sagt nur: «Übermorgen will ich dorthin zurückkehren und auch in den
folgenden Tagen, so lange, bis ich alle Arbeiten beendet habe. Ich hoffe, daß
wenigstens ihr dafür Verständnis habt. Chorazim ist eine harte Nuß ohne Kern.
Seid wenigstens ihr keine tauben Nüsse. Du, Kind, reiche mir die Nuß, die Simon
dir gegeben hat, und höre auch du gut zu.
Seht ihr diese Nuß? Ich nehme sie, da ich kein anderes Schalenobst
zur Verfügung habe; aber, um das Gleichnis besser zu verstehen, denkt an die
Kerne der Pinien oder der Palmen, an die härtesten, an jene der Oliven zum
Beispiel. Es sind verschlossene Behältnisse, ohne Fugen, steinhart und aus
kompaktem Holz. Sie gleichen magischen Schreinen, die nur mit Gewalt geöffnet
werden können. Doch wenn einer auf den Boden fällt und ein Vorübergehender ihn
in die Erde stampft, was geschieht? Der Schrein öffnet sich und bildet Wurzeln
und Blätter. Wie kann das von allein geschehen? Uns kostet es Mühe, ihn mit dem
Hammer aufzuschlagen, und doch öffnet sich dieser Kern von selbst. Hat der Same
vielleicht magische Kräfte? Nein! Er enthält ein Mark. Oh, etwas sehr Weiches
im Vergleich zur harten Schale! Und das Mark nährt etwas noch viel kleineres:
den Keim. Das ist der Trieb, der die Schale sprengt und eine Pflanze mit
Blättern, Krone und Wurzeln bildet. Versucht, die Nüsse einzugraben, und dann
wartet ab. Ihr werdet sehen, daß einige sich öffnen, andere nicht. Grabt jene,
die sich nicht öffnen, wieder aus. Zerschlagt sie mit dem Hammer, und ihr
werdet sehen, daß es leere Schalen sind. Es ist daher weder die Feuchtigkeit
des Bodens noch die Wärme, welche die Nuß öffnet, sondern das Mark, vielmehr
die Seele des Marks: der Keim, der anschwillt, die Schale sprengt und öffnet.
Dies ist das Gleichnis. Doch wir wollen es auf uns
anwenden.
Was habe ich getan, das nicht gut sein soll? Verstehen
wir uns noch so wenig, daß ihr nicht begreift, daß Heuchelei eine Sünde und das
Wort Wind ist, wenn es nicht in die Tat umgesetzt wird? Habe ich euch nicht
immer wieder gesagt: "Liebet einander! Die Liebe ist das Gebot und das
Geheimnis der Herrlichkeit?" Und ich, der ich dies predige, sollte ohne
Liebe sein? Soll ich euch das Beispiel eines Meisters der Lüge geben? Nein,
niemals!
O meine Freunde! Unser Körper ist wie eine harte Nuß. In
der harten Schale ist das Mark eingeschlossen: die Seele, und in ihr befindet
sich der Keim, den ich hineingelegt habe. Er besteht aus vielen Elementen. Doch
das wichtigste ist die Liebe. Sie sprengt die Schale, um den Geist aus der
Umklammerung der Materie zu befreien und ihn wieder mit Gott zu vereinigen, der
die Liebe ist. Die Liebe übt man nicht nur mit Worten oder Geld. Man übt Liebe
nur mit Liebe. Das soll kein Wortspiel sein. Ich hatte kein Geld, und Worte
genügten nicht in diesem Fall. Hier waren sieben Personen an der Schwelle des
Hungers und der Bedrängnis. Die Verzweiflung streckte ihre schwarzen Fangarme
aus, um zu erfassen und zu ersticken. Die Welt zog sich hart und egoistisch vor
diesem Unglück zurück. Die Welt hat damit bewiesen, daß sie die Worte des
Meisters nicht begreift. So hat der Meister eben durch die Tat gepredigt. Ich
war fähig und frei, es zu tun. Und ich hatte die Pflicht, diese Elenden, die
die Welt nicht liebt, für die ganze Welt zu lieben. All das habe ich getan.
Wollt ihr mich immer noch tadeln? Oder muß nicht vielmehr ich euch in Gegenwart
eines Jüngers tadeln, der es nicht für unter seiner Würde gehalten hat, sich
zwischen Sägemehl und Hobelspänen aufzuhalten, um den Meister nicht zu
verlassen, und der sich, dessen bin ich gewiß, mehr von mir überzeugen ließ,
als er mich über Bretter gebeugt sah, als wenn er mich auf einem Thron gesehen
hätte? Muß nicht vielmehr ich euch in Gegenwart eines Kindes tadeln, das mich
als den erkannt hat, der ich bin, trotz seiner absoluten Unkenntnis des Messias
und trotz des Unglücks, das es bedrückt?
Ihr schweigt? Bereut nicht nur, solange ich die Stimme
erhebe, um eure falschen Ansichten zu berichtigen. Ich tue es aus Liebe. Legt
deshalb in euch den Keim, der heiligt und die Schale sprengt, sonst bleibt ihr
immer unnütze Wesen. Ihr müßt zu dem bereit sein, was ich getan habe. Aus Liebe
zum Nächsten und um die Seele zu Gott zu führen darf euch keine Mühe abschrecken.
Die Arbeit, welcherart auch immer sie sei, demütigt nie. Demütigend sind jedoch
die niedrigen Handlungen: Falschheit, falsche Anschuldigungen, Härte,
Übergriffe, Ausbeutung, Verleumdungen und Wollust. Diese erniedrigen den
Menschen. Und doch werden sie ohne Scham begangen, auch von jenen, die sich für
vollkommen halten und sich ganz sicher geärgert haben, als sie mich mit Säge
und Hammer arbeiten sahen. Oh! Oh! Der Hammer! Der unwürdige Hammer, wie edel
wird er, wenn man mit ihm Nägel ins Holz schlägt, um einen Gegenstand
herzustellen, mit dem man den Waisenkindern Nahrung verschaffen kann. Wie
erscheint doch der gewöhnliche Hammer, den meine Hände zu einem guten Zweck
verwenden, nicht mehr als unedel, und alle jene werden ihn haben wollen, die jetzt
noch Ärgernis daran nehmen!
O Mensch, Geschöpf, das du Licht und Wahrheit sein
solltest, wie bist du doch Finsternis und Lüge! Aber begreift wenigstens ihr,
was das Gute ist! Was die Liebe ist! Was der Gehorsam ist! Wahrlich, ich sage
euch, daß es viele Pharisäer gibt. Und sie fehlen auch nicht unter denen, die
mich umgeben.»
«Nein, Meister, sag das nicht! Nein... Nur weil wir dich
lieben, wollen wir gewisse Dinge nicht... !»
«Eben weil ihr bis heute noch nichts begriffen habt. Ich
habe vom Glauben und von der Hoffnung gesprochen und gedacht, daß keine neuen
Worte notwendig wären, um von der Liebe zu reden; denn ich ströme so viel Liebe
aus, daß ihr davon durchdrungen sein müßtet. Aber ich sehe, daß ihr sie nur dem
Namen nach kennt, ohne ihre wahre Natur und Gestalt erkannt zu haben. So wie
ihr den Mond kennt.
Erinnert ihr euch, daß ich gesagt habe, daß die Hoffnung
der Querbalken des süßen Joches ist, das den Glauben und die Liebe trägt, und
daß sie das Kreuz der Menschheit und der Thron des Heiles ist? Aber ihr habt
den Sinn meiner Worte nicht verstanden. Warum habt ihr mich nicht um eine
Erklärung gebeten? Jetzt will ich sie euch geben. Die Hoffnung ist ein Joch,
weil sie den Menschen zwingt, seinen törichten Hochmut unter der Last der
ewigen Wahrheiten zu beugen. Und sie ist das Kreuz dieses Hochmuts. Ein Mensch,
der auf Gott, seinen Herrn, hofft, demütigt notwendigerweise seinen Stolz, der
sich "Gott" nennen möchte, und erkennt, daß er nichts ist und Gott
alles ist; daß er nichts kann, Gott aber alles vermag; daß er vergänglicher
Staub ist, während Gott Ewigkeit ist und den Staub auf eine höhere Stufe
erhebt, indem er ihm den Lohn der Ewigkeit zuteil werden läßt. Der Mensch
nagelt sich an sein heiliges Kreuz, um das wahre Leben zu erlangen. Und es heften
ihn die Flammen des Glaubens und der Liebe daran, während die Hoffnung, die
zwischen beiden steht, ihn zum Himmel erhebt.
Daher merkt euch diese Lehre: wenn die Liebe fehlt, ist
der Thron ohne Licht, und der Körper, nur an einer Seite angenagelt, hängt in
den Schlamm und kann den Himmel nicht mehr sehen. Dadurch werden auch die
heilsamen Wirkungen der Hoffnung zunichte gemacht, und es endet damit, daß der
Glaube ebenfalls unfruchtbar wird; denn losgelöst von zwei der drei göttlichen
Tugenden, verfällt er in Siechtum und tödliche Kälte.
Lehnt Gott auch nicht in den geringsten Dingen ab. Denn
es ist eine Ablehnung Gottes, wenn man dem Nächsten aus heidnischem Stolz die
Hilfe versagt.
Meine Lehre ist ein Joch, das die schuldige Menschheit
niederdrückt; sie ist ein großer Hammer, der die harte Schale zerschlägt, um
den Geist zu befreien. Sie ist ein Joch und ein Hammer, ja; doch wer sie
annimmt, spürt die Müdigkeit, die alle anderen menschlichen Lehren und alle
anderen menschlichen Dinge erzeugen, nicht. Und auch wer sich von dem Hammer
schlagen läßt, spürt nicht den Schmerz, in seinem menschlichen Ich
zerschmettert zu werden, sondern er empfindet ein Gefühl der Befreiung. Warum
sucht ihr euch davon zu befreien, um es durch all das, was Blei und Schmerz
ist, zu ersetzen? Ihr habt alle eure Schmerzen und Mühen. Die ganze Menschheit
hat Schmerzen und Mühen, die manchmal die menschlichen Kräfte übersteigen.
Angefangen vom Kind, das wie dieses schon eine große Bürde auf seinen kleinen
Schultern trägt, die es niederdrückt und ihm das Lächeln von den Lippen und die
Sorglosigkeit aus seinem Geist reißt, bis hin zum Greis, der mit all den
Enttäuschungen, Mühen, Lasten und Wunden seines langen Lebens auf das Grab
zugeht. Aber meine Lehre und mein Glaube sind eine Erleichterung dieser
niederdrückenden Lasten. Daher werden sie die "Frohe Botschaft"
genannt. Und wer sie annimmt und ihr gehorcht, wird schon auf Erden selig sein;
denn Gott wird ihn trösten und die Tugenden werden ihm den Weg leicht und hell
machen, als wären sie gute Schwestern, die ihn an der Hand nehmen, mit
brennenden Lampen den Weg und das Leben erhellen und ihm die ewigen
Verheißungen Gottes singen, bis er im Frieden den müden Körper der Erde zum
irdischen Schlaf überläßt und im Paradies wieder erwacht. Warum wollt ihr
Menschen belastet, trostlos, müde, angeekelt und verzweifelt sein, wenn ihr
erleichtert und gestärkt sein könntet? Warum wollt auch ihr, meine Apostel, die
Last, die Schwierigkeit und die Strenge der Mission spüren, während ihr mit dem
Vertrauen eines Kindes nur heiteren Fleiß und lichtvolle Leichtigkeit in ihrer
Ausführung kennen und begreifen würdet, daß sie nur für die Unbußfertigen, die
Gott nicht kennen, streng ist, für die Getreuen Gottes aber wie eine Mutter,
die beim Gehen hilft und dem Kind Steine, Dornen, Schlangennester und Gräben
aufzeigt, damit es sie erkenne und nicht ihrer Gefahr ausgesetzt sei ?
Jetzt seid ihr betrübt. Eure Betrübnis hatte einen
elenden Anfang! Ihr wart zuerst untröstlich über meine Demut, als wäre sie ein
Verbrechen gegen mich selbst. Nun seid ihr traurig, weil ihr begriffen habt,
daß ihr mich betrübt habt und noch so weit von der Vollkommenheit entfernt
seid. Doch nur bei wenigen ist diese zweite Traurigkeit frei von Stolz; vom
Stolz, der verletzt ist durch die Feststellung, daß ihr noch ein Nichts seid,
während ihr aus Hochmut vollkommen sein möchtet. Habt wenigstens die willige
Demut, den Vorwurf anzunehmen und zu bekennen, daß ihr gefehlt habt, und
versprecht in eurem Herzen, daß ihr die Vollkommenheit für ein übermenschliches
Ziel anstreben wollt. Dann kommt zu mir. Ich weise euch zurecht, aber ich
verstehe euch und habe Mitleid.
Kommt zu mir, ihr Apostel, und kommt zu mir alle, ihr
Menschen, die ihr an materiellen, an moralischen Schmerzen und an seelischen
Schmerzen leidet. Diese letzteren verursacht der Kummer darüber, daß ihr noch
nicht fähig seid, euch zu heiligen, wie ihr es aus Liebe zu Gott und mit Eifer
und ohne Rückfälle ins Böse tun möchtet. Der Weg der Heiligung ist lang und
geheimnisvoll, und manchmal erfüllt er sich ohne Wissen des Wanderers, der im
Dunkeln weitergeht, mit dem Geschmack des Giftes im Mund, und glaubt, nicht
voranzukommen und den himmlischen Trank nicht trinken zu können, und nicht
weiß, daß auch diese geistige Blindheit ein Teil der Vollkommenheit ist.
Selig jene, dreimal selig, welche ihren Weg fortsetzen,
ohne die Freuden des Lichtes und der Süßigkeiten zu verspüren, und nicht
aufgeben, weil sie nichts sehen und hören, und nicht stehenbleiben und sagen:
"Solange Gott mir keine Freuden gewährt, gehe ich nicht weiter." Ich
sage euch: die dunkelste Straße wird plötzlich ganz leuchtend und öffnet sich
himmlischen Gefilden. Das Gift, das den Geschmack für menschliche Dinge
verdorben hat, wandelt sich in paradiesische Süßigkeit für jene Mutigen, die
erstaunt sagen werden: "Wie dies? Warum wird mir so viel Süßigkeit und
Freude zuteil?" Weil sie ausgeharrt haben und Gott sie schon auf Erden
über das jubeln läßt, was im Himmel auf sie wartet.
Aber vorerst, um standzuhalten, kommt alle zu mir, die
ihr mühselig und beladen seid. Ihr Apostel, und mit euch alle Menschen, die
Gott suchen, die über die Schmerzen der Erde weinen, die sich allein
dahinschleppen, ich will euch erquicken. Nehmt
mein Joch auf euch. Es ist keine Last. Es ist eine Stütze. Umfangt
meine Lehre, als wäre sie eine geliebte Braut. Ahmt euren Meister nach, der
sich nicht damit begnügt, euch zu segnen, sondern auch tut, was er euch lehrt. Lernt von mir, der ich sanft und demütig von Herzen bin. Ihr
werdet die Ruhe eurer Seelen finden; denn Sanftmut und Demut gewähren das Reich
auf Erden und im Himmel. Ich habe euch schon gesagt, daß die wahren Sieger
unter den Menschen jene sind, die mit Liebe erobern, und Liebe ist immer
Sanftmut und Demut. Ich werde euch niemals auftragen, Dinge zu tun, die über
eure Kräfte gehen, denn ich liebe euch und will euch bei mir in meinem Reich
haben. Nehmt daher meine Grundsätze und meine Lehre an und bemüht euch, mir und
dem, was meine Glaubenslehre euch sagt, ähnlich zu werden. Habt keine Angst,
denn mein Joch ist süß und meine Bürde ist leicht, die Herrlichkeit aber, die
ihr genießen werdet, wenn ihr mir treu bleibt, ohnegleichen. Unendlich und
ewig...
Ich lasse euch nun eine Weile allein. Ich gehe mit dem
Kind zum See. Es wird dort Freunde finden... Dann werden wir zusammen das Brot
brechen. Komm, Joseph! Ich werde dich mit den Kindern bekanntmachen, die mich
lieben.»