HEILUNG DES GELÄHMTEN IM HAUSE PETRI
IN KAPHARNAUM
Kap.99
Petrus und Andreas, mit den Schultern an das
Boot gelehnt, arbeiten schweigend daran, die Netzfäden und die Signalkorken auszubessern.
Nur ab und zu wechseln sie einige Worte über ihre Arbeit, die, wie ich vermute,
vergeblich war.
Petrus ärgert sich nicht wegen der leeren
Geldbörse oder der unbelohnten Mühe; er sagt: «Es tut mir leid... was werden
wir tun, um diesen Armen Nahrung zu geben? Wir bekommen nur selten Spenden, und
diese zehn Denare und sieben Drachmen, die wir in diesen vier Tagen gesammelt
haben, werde ich nicht anrühren. Nur der Meister soll bestimmen, wann und wie
diese Münzen verwendet werden sollen. Und bis zum Sabbat ist er nicht da. Hätte
ich einen guten Fang gehabt! Auch die kleinsten Fische hätte ich zubereitet und
sie dann den Armen gegeben; und wenn einer im Hause deswegen gemurrt hätte,
dann hätte ich mir nichts daraus gemacht. Die Gesunden können sich selbst
helfen, doch die Kranken!»
«Der arme Gelähmte... sie haben ihn auf
einem weiten Weg mühsam hierhergebracht...» sagt Andreas.
«Höre, Bruder! Ich meine, wir sollten nicht
so getrennt bleiben... Ich weiß nicht, warum uns der Meister nicht immer bei
sich haben will. Wenigstens hätte ich nicht immer die Armen vor Augen, denen
ich nicht helfen kann... und wenn ich sie dann sähe, könnte ich ihnen sagen:
"Er ist da!"»
«Hier bin ich!» Jesus hat sich auf dem
weichen Sande lautlos genähert.
Petrus und Andreas machen einen
Freudensprung und rufen aus: «Oh, Meister!» Und zu ihren Freunden: «Jakobus,
Johannes, der Meister ist da, kommt!»
Die beiden kommen herbei, und alle drängen
sich um Jesus.
«Worüber habt ihr gesprochen?»
«Meister, wir sprachen darüber, wie nötig
wir dich haben.»
«Warum, Freunde?»
«Um dich sehen und lieben zu können, und
dann auch der Armen und Kranken wegen. Seit zwei und mehr Tagen warten sie auf
dich. Ich habe getan, was ich konnte. Ich habe sie dorthin gebracht. Siehst du
die Hütte auf dem brachen Feld? Dort machen die Schiffshandwerker ihre
Reparaturen. Ich habe dorthin auch einen Gelähmten gebracht, der hohes Fieber
hat, und ein Kind, das an der Brust seiner Mutter stirbt. Ich konnte sie nicht
fortschicken, dich zu suchen.»
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«Du hast gut getan. Doch wie konntest du
ihnen helfen, und wer hat sie hergebracht? Du sagtest doch, daß es Arme sind.»
«Gewiß, Meister; denn die Reichen haben
Wagen und Pferde, die Armen aber nur ihre Beine. Sie hätten dir nicht nacheilen
können. Ich tat, was ich konnte. Schau, das ist die Spende, die ich bekommen
habe. Ich habe nichts davon angerührt. Das ist deine Sache.»
«Petrus, du hättest es gleichwohl tun
können. Gewiß... Mein Petrus, es tut mir leid, daß du meinetwegen gescholten
wirst und Mühen hast.»
«Nein, Meister, darüber mache dir keine
Sorgen! Mir macht es nichts aus. Nur, daß ich nicht mehr Barmherzigkeit üben
konnte, bedauere ich. Doch glaube mir, ich habe, wir alle haben getan, was wir
konnten.»
«Ich weiß es; ich weiß auch, daß du
vergeblich gearbeitet hast. Doch wenn auch keine Nahrung da ist, die
Nächstenliebe bleibt: die lebendige und aktive Nächstenliebe, die in den Augen
Gottes heilig ist.»
Kinder kommen schreiend daher: «Der Meister
ist da, der Meister ist da! Jesus ist gekommen, Jesus ist gekommen!» und sie
schmiegen sich an ihn, der sie liebkost, während er gleichzeitig mit den
Jüngern spricht: «Simon, ich gehe in dein Haus. Du und ihr anderen geht und
verkündet, daß ich gekommen bin, und dann bringt mir die Kranken!»
Die Jünger eilen in alle Richtungen fort.
Doch ganz Kapharnaum weiß bereits, daß Jesus angekommen ist. Die Kinder haben
dafür gesorgt: wie Bienen aus dem Bienenstock zu den verschiedenen Blumen, so
sind sie in die Häuser, auf die Straßen und Plätze "geflogen".
Freudig überbringen sie die Botschaft den Müttern, den Reisenden, den Alten,
die an der Sonne sitzen, und kommen zurück, um sich nochmals liebkosen zu
lassen von ihm, der sie liebt; und ein mutiges Kind sagt: «Sprich heute zu uns
und für uns, Jesus! Wir lieben dich sehr, weißt du, und wir sind besser als die
Erwachsenen.»
Jesus lächelt dem kleinen Psychologen zu und
verspricht: «Ich werde zu euch sprechen.» Und von den Kindern gefolgt, geht er
zum Hause und betritt es mit seinem üblichen Gruß: «Der Friede sei in diesem
Hause!»
Die Menschen versammeln sich im großen Raum,
der für die Segel, Netze, Körbe und Vorräte bestimmt ist. Man sieht, daß Petrus
alles für Jesus vorbereitet und die Dinge in eine Ecke gebracht hat. Er ist
vollgestopft mit Leuten; wer keinen Platz gefunden hat, steht im Garten oder
auf der Straße.
Jesus beginnt zu reden. In der ersten Reihe
befinden sich fünf hochgestellte Personen, die sich herrschsüchtig breitgemacht
haben, gestützt auf die Ehrfurcht, welche die Bevölkerung ihnen bezeugt. Ihr
Verhalten, die vornehme Kleidung und ihr Hochmut lassen sie als Pharisäer und
Schriftgelehrte erkennen. Jesus möchte jedoch seine Kinder um sich haben. Einen
Kranz unschuldiger Gesichtlein mit engelgleichem Lächeln und leuchtenden Augen,
die zu ihm aufschauen. Jesus spricht, und von Zeit zu Zeit streichelt er im
Reden das eine oder andere lockige Köpfchen eines Kindes, das sich zu seinen
Füßen niedergesetzt hat und den Kopf an sein Knie lehnt. Jesus sitzt auf einem
großen Haufen von Netzen und Körben.
«"Mein Geliebter ist in seinen Garten
gegangen, zu den Balsambeeten, um sich an den Pflanzen zu erfreuen und Lilien
zu pflücken... Hirte ist er auf Liliengefilden", (HI 6,2), so spricht
Salomon, der Sohn Davids, von dem ich abstamme, ich, der Messias Israels.
Mein Garten! Welcher Garten ist schöner und
Gottes würdiger als der Himmel, in dem die vom Vater erschaffenen Engel die
Blumen sind? Aber der einzige eingeborene Sohn des Vaters, der Menschensohn,
wollte einen anderen Garten; denn für den Menschen habe ich Fleisch angenommen,
ohne welches ich die Schuld der Menschen nicht tilgen könnte. Ein Garten, der
nur wenig unter dem himmlischen stehen würde, wenn die Söhne Adams, die ganz
für den Himmel bestimmt waren, die Kinder Gottes, sich wie sanfte Bienen aus
dem Bienenkorbe entfernt hätten, um die Erde mit Heiligkeit zu bevölkern. Doch
der Feind hat Verwirrung und Dornen in das Herz Adams gesät, und Unkraut und
Dornen aus diesem Herzen haben die Erde überwuchert. Kein Garten ist sie mehr,
nur dürre Wüste und Wildnis, in welcher das Fieber schwelt und die Schlangen
nisten.
Doch der Erwählte des Vaters hat noch einen
Garten auf dieser Erde, auf welcher Satan herrscht. In diesen Garten geht er,
um sich an seiner himmlischen Nahrung zu weiden: der Liebe und der Reinheit;
und aus diesem Beet pflückt er die geliebten Blumen, in denen keine Sinneslust,
keine Unreinheit und kein Hochmut ist: die Kleinen! (Jesus liebkost viele
Kinder, die aufleuchten und freudvoll ihm zulächeln.) Dies sind meine Lilien!
Salomon in seinem Reichtum hatte kein Gewand,
das schöner war als die Lilie im duftenden Felde, und kein Diadem von solch
köstlicher, herrlicher Anmut wie das der Lilie mit ihrem Perlenkelch. Doch
meinem Herzen ist keine Lilie kostbarer als diese Kleinen. Es gibt kein
Blumenbeet, keinen Garten der Reichen voll edler Lilien, der mir wertvoller
wäre als ein einziges dieser reinen, unschuldigen, aufrichtigen, einfachen
Kinder.
O ihr Frauen und Männer Israels! O ihr
Großen und Schlichten, was Vermögen und Stellung betrifft, hört! Ihr seid hier,
um mich kennen und lieben zu lernen. So sollt ihr nun erfahren, welches die
erste Bedingung ist, um mir anzugehören. Ich sage euch keine schwierigen Worte,
noch gebe ich euch schwierige Vorbilder. Ich sage nur: "Nehmt diese Kinder
zum Vorbild!"
Wer von euch hat nicht einen Sohn, einen
Enkel oder einen Bruder im Kindesalter im Hause? Ist ein solches Kind nicht
eine Erholung, ein Trost, ein Band zwischen Eltern, Verwandten, Freunden; ein
Kind, dessen Seele rein ist wie ein schöner Morgen, dessen Gesichtlein die
Wolken vertreibt und Hoffnungen weckt, dessen Liebkosungen die Tränen trocknen
und Lebenskraft einflößen? Warum ist in ihnen eine solche Macht? In ihnen, die
schwach, unreif und unwissend sind? Weil in ihnen Gott wohnt, die Kraft und die
Weisheit Gottes! Die wahre Weisheit: sie können lieben und glauben. Sie können
glauben und wollen. Sie verstehen es, in dieser Liebe und in diesem Glauben zu
leben. Seid also wie sie: einfach, rein, liebevoll, aufrichtig und gläubig!
Es gibt keinen Weisen in Israel, der größer
wäre als der Kleinste von diesen, dessen Seele Gott gehört und ihr das Reich
Gottes. Gesegnete des Vaters, Geliebte des Sohnes, Blumen meines Gartens, mein
Friede sei über euch und über allen, die euch aus Liebe zu mir nachahmen!»
Jesus hat geendet.
«Meister», ruft Petrus von der anderen
Seite, «hier sind die Kranken. Zwei können warten, bis du hinausgehst; aber
hier ist einer eingekeilt in der Menge und hält nicht mehr stand. Wir können
nicht durchkommen. Soll ich ihn fortschicken?»
«Nein, laßt ihn durch das Dach herab.»
«Gut gesagt; wir werden es sofort tun.»
Man hört auf dem niederen Dach über dem
Saale herumtrampeln. Da dieser Raum nicht zum eigentlichen Wohnhause gehört,
hat er keine zementierte Terrasse, sondern ist nur mit schieferähnlichen
Platten bedeckt. Es entsteht nun eine Öffnung, und mittels Seilen wird die
Bahre mit dem Kranken hinuntergelassen. Sie wird direkt vor Jesus
niedergestellt. Die Menschen drängen sich näher, um besser zu sehen.
«Du hast einen großen Glauben gehabt, wie
auch jene, die dich hierhergebracht haben.»
«O Jesus, wie sollten wir nicht an dich
glauben?»
«Nun wohl, so sage ich dir, Sohn (der Mann
ist noch jung), alle deine Sünden sind dir vergeben.»
Der Mann schaut Jesus weinend an...
vielleicht ist er enttäuscht, weil er auf eine leibliche Heilung hoffte. Die
Pharisäer und die Schriftgelehrten flüstern miteinander, rümpfen die Nase und
verziehen Stirne und Mund mit Verachtung.
«Warum murrt ihr in euren Herzen mehr noch
als mit den Lippen? Was ist nach eurer Meinung leichter, dem Gelähmten zu
sagen: "die Sünden sind dir vergeben" oder "steh auf, nimm dein
Bett und geh"? Ihr denkt, daß nur Gott Sünden vergeben kann. Doch ihr
könnt nicht beantworten, was größer ist, weil der Mann da, dessen ganzer Körper
krank ist, all sein Vermögen aufgewendet hat, ohne geheilt worden zu sein. Nur
Gott kann ihn heilen. Nun, damit ihr wißt, daß ich alles vermag, damit ihr
erkennt, daß der Menschensohn Macht über Leib und Seele, über Himmel und Erde
hat, sage ich zu diesem Mann: "Steh auf, nimm dein Bett und geh! Geh nach
Hause und sei heilig!"»
Den Mann erfaßt ein Schütteln, er schreit
auf, erhebt sich und wirft sich Jesus zu Füßen, küßt sie, weint und lacht
gleichzeitig, und mit ihm die Angehörigen und die Menschenmenge, die nun einen
Weg freigibt, um ihn wie im Triumph durchzulassen. Jubelnd folgt ihm das Volk,
aber ohne die fünf Grollenden, die überheblich weggehen.
So kann nun die Mutter mit dem Säugling, der
zum Skelett abgemagert ist, bis zu Jesus gelangen. Sie zeigt ihn ihm und sagt
nur: «Jesus, du liebst sie, die Kinder. Du selbst hast es gesagt. Um dieser
Liebe und um deiner Mutter willen! ...» und sie weint.
Jesus nimmt ihn, den sterbenden Säugling,
drückt ihn an sein Herz und hält sein wächsernes Gesichtlein mit den violetten
Lippen und den schon gesenkten Lidern an seinen Mund, einen Augenblick nur...
und als er es von seinem blonden Bart wegnimmt, ist das Gesichtlein rosig, und
das Mündlein umspielt ein seliges Lächeln; die Augen schauen lebhaft und
neugierig um sich, und das Kind greift mit den zuvor verkrampften Händchen in
die Haare und in den Bart Jesu, der dazu lacht.
«O mein Sohn!» ruft die selige Mutter aus.
«Nimm es, Frau, sei glücklich und gut!»
Die Frau nimmt das Wiedergeborene und drückt
es an ihre Brust, und das Kleine macht sofort seinen Anspruch auf Nahrung
geltend; es sucht die Brust, enthüllt sie und trinkt, trinkt gierig und
glücklich...
Jesus segnet und geht weiter, bis zur
Schwelle, wo der Fieberkranke wartet.
«Meister, sei gut!»
«Auch du! Nütze deine wiedererlangten Kräfte
in der Gerechtigkeit!»Er streichelt ihn liebevoll und geht hinaus.