Didos Seelenkonflikt
1 At regina gravi iamdudum saucia cura
2 volnus alit venis et caeco carpitur igni.
3 multa viri virtus animo multusque recursat
4 gentis honos; haerent infixi pectore voltus
5 verbaque nec placidam membris dat cura
quietem.
Aber die Königin,
schon lange verwundet durch schweren Kummer,
nährt die Wunde in
den Adern und wird durch ein unsichtbares Feuer verzehrt.
Die vielfache
Tüchtigkeit des Mannes und das hohe Ansehen seines Geschlechts gehen ihr immer
wieder durch den Sinn; eingeprägt in ihrer Brust haften seine Gesichtszüge
und seine Worte
und der Kummer gibt ihren Gliedern keine sanfte Ruhe.
Die Einheit und Vollkommenheit dieser 5 Zeilen ist
an formalen und inhaltlichen Elementen zu erkennen. Formale Elemente sind
potentielle Sinnträger.
Die Zeilenstruktur
Gliederungskriterium für die Zeilenstruktur
ist die Übereinstimmung von Zeilenende und Satzende. Demnach bestehen die 5
Zeilen aus 2 Einheiten von 2 und 3 Zeilen. Entsprechend der Zeilenzahl enthält
die erste Einheit 2, die zweite Einheit 3 Verben. Jedes Verb ist Träger einer
Satzeinheit.
Satz- und Wortstruktur
Gemeinsam ist beiden Einheiten
zeilenübergreifende Satzstruktur (Enjambements).
Die 1. Zeile bildet mit der 5.
Zeile einen Rahmen durch cura.
Die erste Einheit ist mit der
zweiten Einheit durch V-Wörter verbunden (volnus, venis –
viri virtus; voltus verbaque). Diese Wörter haben
Bindefunktion für die Zeilen 3-5. Die dritte und vierte Satzeinheit enthält je
ein durch que
verbundenes Binom.
Die metrische Struktur
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Metra 1-4 |
Cäsurschema |
Diäresen |
|||||||
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1. |
2. |
3. |
4. |
2. |
3. |
4. |
1. |
4. |
5. |
1 |
Át regína graví iamdúdum sáucia cúra |
S |
D |
D |
S |
|
3 |
4 |
|
S
|
D |
2 |
vólnus alít venís et cáeco
cárpitur ígni. |
D |
S |
S |
S |
2 |
3 |
|
|
S |
D |
3 |
múlta virí virtús animó multúsque
recúrsat |
D |
S |
D |
S |
2 |
3 |
4 |
|
|
|
4 |
géntis honós; haerént infíxi
péctore vóltus |
D |
S |
S |
S |
2 |
3 |
|
|
S |
D |
5 |
vérbaque néc placidám membrís
dat cúra quiétem. |
D |
D |
S |
D |
2 |
3 |
4 |
D
|
|
|
Aufgrund gleicher Diäresen
werden die Zeilen der ersten Einheit miteinander verbunden. Identische
metrische Struktur weisen die Zeilen 2 u. 4 auf. Die Zeilen 3 und 5
korrespondieren durch gleiches Cäsurschema.
Die zweite Zeile zeigt
vollkommenes Gleichgewicht in Wortendbetonung (2 3) und metrischem Wortabschluß
(4 5). Hinzukommt, dass sich 2 3 – 4 5 chiastisch verhalten. Das verbindende et steht in der Mitte von
jeweils 3 Wörtern. Ein ähnlicher Vers kommt in Ovids Erzählung von Dädalus und
Ikarus vor (Met. 8, 193):
túm linó mediás et céris ádligat ímas
Dann
verbindet er (die Federn) in der Mitte mit Leinen und ganz unten mit Wachs.
In Verbindung mit dem
Flügelbau spielt das Gleichgewicht eine besondere Rolle.
Inhaltliche Aussagen
Inhaltliche Aussagen stützen sich
auf Wortbedeutungen und Sinneinheiten, die zusammen ein Ordnungsgefüge mit
allseitigem Wechselbezug bilden. Das Ordnungsgefüge selbst kann als Form
bezeichnet werden.
Die 5 Zeilen werden thematisch
beherrscht durch das zweimalige cura. Unter cura ist eine innere Unruhe, eine Störung der seelischen
Ordnung zu verstehen. Die seelische Belastung tritt zunächst nicht nach außen,
sie spielt sich im Innern ab. Vergil verwendet für das Innen 3 Wörter im
Ablativ: venis, animo, pectore. Das Wort venis zeigt
eine unverkennbare Nähe zu Venus: Neu auftretende Liebesgefühle gehen einher mit beschleunigtem Herzschlag
und Hitzeempfindungen (igni).
Entsprechend den drei Wörtern
kann der Inhalt der 5 Zeilen in drei Teile aufgeteilt werden.
In den ersten beiden Zeilen wird
Didos Kummer als Tatsache festgestellt. Die Symmetrie der 2. Zeile besteht in
einem Gleichgewicht zwischen aktivem Tun (alit) und passivem Erleiden (carpitur).
Die Zeilen 3 u. 4 geben
konkret Auskunft über die Ursachen von aktivem alit und passivem carpitur. Dido nährt die Liebespein
dadurch, daß sie andrängende Gedanken und Gefühle zu Aeneas nicht zurückweist,
sondern ihr Herz (animo) immer von neuem davon beherrschen läßt (recursat). Didos geistige Betrachtung
von Aeneas Persönlichkeit schreitet fort zur sinnlichen Wahrnehmung seiner
Person durch Sehen und Hören. Die sinnlichen Eindrücke weichen nicht von ihrer
Seele und verursachen das Feuer, das in der (metrisch identischen) 2. Zeile
erwähnt wird. Die beiden parallelen Binome unterstützen die iterative Bedeutung
von recursat.
Die 5. Zeile gibt das Ergebnis
der konkreten Vorgänge wieder. Sie schließt durch das zweite cura den (Blut-)Kreislauf
seelischer Turbulenzen zur 1. Zeile. Gleichzeitig läßt die Verbindung des
Begriffs cura mit
einem aktivem Verb ein Fortschreiten von Didos Seelenzustand erkennen. Die
innere Bedrängnis hat eine solche Macht über sie gewonnen, daß alit einem ohnmächtigen Gehorchen
gleichkommt.
Die thematische Polarität von
Aktiv und Passiv wird am prägnantesten durch zwei verschiedene Kasus von cura ausgedrückt, in der letzten
Zeile im Nominativ, in der ersten Zeile im Ablativ.
Die 5 Zeilen dienen als
Grundeinstimmung zu Buch 4. Unter diesem Gesichtspunkt ist cura als Gewissenskonflikt
zwischen Didos Loyalität zu ihrem toten Gemahl Sychäus und einer neuen
Liebesbeziehung zu verstehen. Solange dieser Konflikt anhält, herrscht ein
Gleichgewicht zwischen zwei verschiedenen Antrieben.