Liebe Brüder und Schwestern!
Wir haben eben die drei Lesungen gehört, die die Liturgie
der Kirche für diesen Sonntag ausgewählt hat. Alle drei sind von einem
doppelten Thema bestimmt, von dem sie je nachdem die eine oder andere Seite
mehr betonen, das aber letztlich doch ein einziges Thema bleibt. Alle drei
Lesungen sprechen von Gott als Zentrum der Wirklichkeit und als Zentrum unseres
eigenen Lebens. "Seht, Gott ist da!" ruft uns der Prophet Jesaja in der ersten
Lesung zu (35,4). Der Jakobus-Brief und das Evangelium sagen auf ihre Weise
dasselbe. Sie wollen zu Gott hinführen und uns so auf den richtigen Weg des
Lebens bringen.
Mit dem Thema Gott ist aber das soziale Thema, unsere
Verantwortung füreinander, für die Herrschaft von Gerechtigkeit und Liebe in
der Welt verbunden. Dramatisch wird das in der Lesung zu Worte gebracht, in der
Jakobus, ein naher Verwandter Jesu, zu uns spricht. Er redet zu einer Gemeinde,
in der man anfängt, stolz zu sein, wenn es da auch reiche und vornehme Leute
gibt, während die Sorge um das Recht für die Armen zu verkümmern droht. Jakobus
lässt in seinen Worten das Bild Jesu durchscheinen, des Gottes, der Mensch
wurde und obgleich davidischer, also königlicher Herkunft, ein Einfacher unter
den Einfachen wurde, sich auf keinen Thron setzte, sondern am Ende in der
letzten Armut des Kreuzes starb. Die Nächstenliebe, die zuallererst Sorge um
die Gerechtigkeit ist, ist der Prüfstein des Glaubens und der Gottesliebe. Jakobus
nennt sie das "königliche Gesetz". Er lässt darin das Lieblingswort Jesu
durchblicken: das Königtum Gottes, die Herrschaft Gottes. Damit ist nicht
irgendein Reich gemeint, das irgendwann einmal kommt, sondern damit ist
gemeint, dass Gott jetzt bestimmend werden muss für unser Leben und Handeln. Darum
bitten wir, wenn wir sagen: Dein Reich komme; wir beten nicht um irgend etwas
Entferntes, das wir selber eigentlich gar nicht zu erleben wünschen. Wir beten
vielmehr darum, dass jetzt Gottes Wille unseren Willen bestimme und so Gott in
der Welt herrsche; also darum beten wir, dass Recht und Liebe entscheidend
werden in der Ordnung der Welt.
Eine solche Bitte richtet sich natürlich zuerst an Gott,
aber sie rüttelt auch an unser eigenes Herz. Wollen wir das eigentlich? Leben
wir in dieser Richtung? Jakobus nennt das "königliche Gesetz", das Gesetz von
Gottes Königtum, zugleich Gesetz der Freiheit: Wenn alle von Gott her denken
und leben, dann werden wir gleich, und dann werden wir frei, und dann entsteht
die wahre Geschwisterlichkeit. Wenn Jesaja in der ersten Lesung von Gott spricht,
"Gott ist da", dann redet er zugleich vom Heil für die Leidenden, und wenn
Jakobus von der sozialen Ordnung als dringlichem Ausdruck unseres Glaubens
spricht, dann redet er ganz selbstverständlich von Gott, dessen Kinder wir
sind.
Aber jetzt müssen wir uns dem Evangelium zuwenden, das
von der Heilung eines Taubstummen durch Jesus spricht. Auch da sind wieder die
beiden Seiten des einen Themas da. Jesus wendet sich den Leidenden zu, denen,
die an den Rand der Gesellschaft gedrängt sind. Er heilt sie und führt sie so
in die Möglichkeit des Mitlebens und Mitentscheidens, in die Gleichheit und
Brüderlichkeit ein. Das geht natürlich uns alle an: Jesus zeigt uns allen die
Richtung unseres Tuns, die Richtung, wie wir handeln sollen. Der ganze Vorgang
hat aber noch eine andere Dimension, auf die die Kirchenväter in ihren
Auslegungen mit Nachdruck hingewiesen haben und die auch uns heute in hohem
Maße angeht.
Die Väter sprechen von den Menschen und zu den Menschen
ihrer Zeit. Aber was sie sagen, geht auf neue Weise auch uns heute an. Es gibt
nicht nur die physische Gehörlosigkeit, die den Menschen weitgehend vom
sozialen Leben abschneidet. Es gibt eine Schwerhörigkeit Gott gegenüber, an der
wir gerade in dieser Zeit leiden. Wir können ihn einfach nicht mehr hören – zu
viele andere Frequenzen haben wir im Ohr. Was über ihn gesagt wird, erscheint
vorwissenschaftlich, nicht mehr in unsere Zeit passend. Mit der Schwerhörigkeit
oder gar Taubheit Gott gegenüber verliert sich natürlich auch unsere Fähigkeit,
mit ihm und zu ihm zu sprechen. Auf diese Weise aber fehlt uns eine
entscheidende Wahrnehmung. Unsere inneren Sinne drohen abzusterben. Mit diesem
Verlust an Wahrnehmung wird der Radius unserer Beziehung zur Wirklichkeit
überhaupt drastisch und gefährlich eingeschränkt. Der Raum unseres Lebens wird
in bedrohlicher Weise reduziert.
Das Evangelium erzählt uns, dass Jesus seine Finger in
die Ohren des Tauben legte, etwas von seinem Speichel auf seine Zunge gab und
sagte: Ephata – tu dich auf. Der Evangelist hat uns das original aramäische
Wort aufbewahrt, das Jesus gesprochen hat und führt uns so direkt in jenen
Augenblick hinein. Was da erzählt wird, ist einmalig und gehört doch nicht
einer fernen Vergangenheit an: Jesus tut dasselbe auf neue Weise auch heute und
immer wieder. In unserer Taufe hat Jesus an uns diese Geste des Berührens
vollzogen und gesagt: Ephata – tu dich auf, um uns hörfähig zu machen für Gott
und so auch wieder das Sprechenkönnen zu Gott zu schenken. Aber dieser Vorgang,
das Sakrament der Taufe, hat nichts Magisches an sich. Die Taufe eröffnet einen
Weg. Sie führt uns ein in die Gemeinschaft der Hörenden und Redenden – in die
Gemeinschaft mit Jesus selber, der als einziger Gott gesehen hat und deshalb
von ihm erzählen konnte (vgl. Joh 1,18): Durch den Glauben will er uns an
seinem Sehen Gottes, an seinem Hören und Reden mit dem Vater beteiligen. Der
Weg des Getauftseins muss ein Prozess des Wachstums werden, in dem wir in das
Leben mit Gott hineinwachsen und so auch einen anderen Blick auf den Menschen
und auf die Schöpfung gewinnen.
Das Evangelium lädt uns ein, wieder zu erkennen, dass es
bei uns ein Defizit in unserer Wahrnehmungsfähigkeit gibt – einen Mangel, den
wir zunächst gar nicht als solchen spüren, weil ja alles andere sich durch
seine Dringlichkeit und Einsichtigkeit empfiehlt; weil ja scheinbar alles
normal weitergeht, auch wenn wir keine Ohren und Augen mehr für Gott haben und
ohne ihn leben. Aber geht es wirklich einfach so weiter, wenn Gott in unserem Leben,
in unserer Welt ausfällt? Bevor wir da weiterfragen, möchte ich ein wenig aus
meinen Erfahrungen in der Begegnung mit den Bischöfen der Welt erzählen. Die
katholische Kirche in Deutschland ist großartig durch ihre sozialen
Aktivitäten, durch die Bereitschaft zu helfen, wo immer es not tut. Immer
wieder erzählen mir die Bischöfe, zuletzt aus Afrika, bei ihren
Ad-Limina-Besuchen dankbar von der Großherzigkeit der deutschen Katholiken und
beauftragen mich, diesen Dank weiterzugeben, was ich hiermit einmal öffentlich
tun möchte. Auch die Bischöfe aus den baltischen Ländern, die vor den Ferien da
waren, haben mir berichtet, wie großartig ihnen deutsche Katholiken beim
Wiederaufbau ihrer durch Jahrzehnte kommunistischer Herrschaft schlimm
zerstörten Kirchen halfen.
Dann und wann aber sagt ein afrikanischer Bischof zu mir:
"Wenn ich in Deutschland soziale Projekte vorlege, finde ich sofort offene
Türen. Aber wenn ich mit einem Evangelisierungsprojekt komme, stoße ich eher
auf Zurückhaltung." Offenbar herrscht da bei manchen die Meinung, die sozialen
Projekte muss man mit höchster Dringlichkeit voranbringen; die Dinge mit Gott
oder gar mit dem katholischen Glauben seien doch eher partikulär und nicht so
vordringlich. Und doch ist es gerade die Erfahrung dieser Bischöfe, dass die
Evangelisierung vorausgehen muss; dass der Gott Jesu Christi bekannt, geglaubt,
geliebt werden, die Herzen umkehren muss, damit auch die sozialen Dinge
vorangehen; damit Versöhnung werde; damit zum Beispiel Aids wirklich von den
tiefen Ursachen her bekämpft und die Kranken mit der nötigen Zuwendung und
Liebe gepflegt werden können. Das Soziale und das Evangelium sind einfach nicht
zu trennen. Wo wir den Menschen nur Kenntnisse bringen, Fertigkeiten,
technisches Können und Gerät, bringen wir zu wenig. Dann treten die Techniken
der Gewalt ganz schnell in den Vordergrund und die Fähigkeit zum Zerstören, zum
Töten wird zur obersten Fähigkeit, zur Fähigkeit, um Macht zu erlangen, die
dann irgendwann einmal das Recht bringen soll und es doch nicht bringen kann:
Man geht so nur immer weiter fort von der Versöhnung, vom gemeinsamen Einsatz
für die Gerechtigkeit und die Liebe. Die Maßstäbe, nach denen Technik in den
Dienst des Rechts und der Liebe tritt, gehen dann verloren, und auf diese
Maßstäbe kommt alles an: Maßstäbe, die nicht nur Theorien sind, sondern das
Herz erleuchten und so den Verstand und das Tun auf den rechten Weg bringen.
Die Völker Afrikas und Asiens bewundern zwar die technischen
Leistungen des Westens und unsere Wissenschaft, aber sie erschrecken vor einer
Art von Vernünftigkeit, die Gott total aus dem Blickfeld des Menschen ausgrenzt
und dies für die höchste Art von Vernunft ansieht, die man auch ihren Kulturen
beibringen will. Nicht im christlichen Glauben sehen sie die eigentliche
Bedrohung ihrer Identität, sondern in der Verachtung Gottes und in dem
Zynismus, der die Verspottung des Heiligen als Freiheitsrecht ansieht und
Nutzen für zukünftige Erfolge der Forschung zum letzten Maßstab erhebt. Liebe
Freunde! Dieser Zynismus ist nicht die Art von Toleranz und kultureller
Offenheit, auf die die Völker warten und die wir alle wünschen. Die Toleranz,
die wir dringend brauchen, schließt die Ehrfurcht vor Gott ein – die Ehrfurcht
vor dem, was dem Anderen heilig ist. Diese Ehrfurcht vor dem Heiligen der
anderen setzt aber wiederum voraus, dass wir selbst die Ehrfurcht vor Gott
wieder lernen. Diese Ehrfurcht kann in der westlichen Welt nur dann regeneriert
werden, wenn der Glaube an Gott wieder wächst, wenn Gott für uns und in uns
wieder gegenwärtig wird.
Wir drängen unseren Glauben niemandem auf: Diese Art von
Proselytismus ist dem Christlichen zuwider. Der Glaube kann nur in Freiheit
geschehen. Aber die Freiheit der Menschen, die rufen wir an, sich für Gott
aufzutun; ihn zu suchen; ihm Gehör zu schenken. Wir, die wir hier sind, bitten
den Herrn von ganzem Herzen, dass er wieder sein Ephata zu uns sagt; dass er
unsere Schwerhörigkeit für Gott, für sein Wirken und sein Wort heilt, und uns
sehend und hörend macht. Wir bitten ihn, dass er uns hilft, wieder das Wort des
Gebetes zu finden, zu dem er uns in der Liturgie einlädt und dessen ABC er uns
im Vaterunser gelehrt hat.
Die Welt braucht Gott. Wir brauchen Gott. Welchen Gott?
In der ersten Lesung sagt der Prophet zu einem unterdrückten Volk: Die Rache
Gottes wird kommen. Wir können uns gut ausdenken, wie die Menschen sich das
vorgestellt haben. Aber der Prophet selber sagt dann, worin diese Rache
besteht: nämlich in der heilenden Güte Gottes. Die endgültige Auslegung des
Prophetenwortes finden wir in dem, der für uns am Kreuz gestorben ist – in
Jesus, dem menschgewordenen Sohn Gottes, der uns hier so eindringlich
ansachaut. Seine "Rache" ist das Kreuz: das Nein zur Gewalt, die "Liebe bis zum
Ende". Diesen Gott brauchen wir. Wir verletzen nicht den Respekt vor anderen
Religionen und Kulturen, wir verletzen nicht die Ehrfurcht vor ihrem Glauben,
wenn wir uns laut und eindeutig zu dem Gott bekennen, der der Gewalt sein
Leiden entgegengestellt hat; der dem Bösen und seiner Macht gegenüber als
Grenze und Überwindung sein Erbarmen aufrichtet. Ihn bitten wir, dass er unter
uns sei und dass er uns helfe, ihm glaubwürdige Zeugen zu sein. Amen.