Mit missionarischem Geist neue Pfade
beschreiten
Im
Wortlaut die Ansprache des Heiligen Vaters an die deutschen Bischöfe während
ihres Ad-limina-Besuchs am 18. November 2006
Meine Herren Kardinäle! Liebe Brüder im
Bischofsamt!
Damit ist unsere Aufgabe als Nachfolger der Apostel berührt: Wir
leben in der Bindung an ihn, der das Alpha und das Omega ist (Offb 1, 8; 21, 6;
22, 13) – an den, der ist, der war und der kommt (Offb 1, 4). Wir verkünden den
Herrn in der lebendigen Gemeinschaft seines Leibes, die von seinem Geist belebt
wird – in der lebendigen Gemeinschaft mit dem Nachfolger Petri und dem
Kollegium der Bischöfe. Der Ad-limina-Besuch soll uns in dieser Gemeinschaft
stärken; er soll uns dazu helfen, dass wir immer mehr als treue und kluge
Verwalter der vom Herrn uns anvertrauten Güter befunden werden können (vgl. Lk
12, 42).
Damit die Kirche dem Herrn und so sich selber treu bleibt, muss
sie immerfort erneuert werden. Aber wie geht das? Um diese Frage zu
beantworten, müssen wir zunächst den Willen des Herrn, des Hauptes der Kirche,
erfragen und klar erkennen, dass alle kirchliche Reform aus dem ernsten Bemühen
um tiefere Erkenntnis der Wahrheiten des katholischen Glaubens und aus dem
beharrlichen Streben nach sittlicher Läuterung und Tugend erwächst. Das ist ein
Appell, der sich zuallererst an jeden Einzelnen und dann an das ganze Volk
Gottes richtet.
Die Suche nach Reform kann leicht in einen äußerlichen Aktivismus
abgleiten, wenn die Handelnden nicht ein echtes geistliches Leben führen und
die Beweggründe für ihr Tun nicht beständig im Licht des Glaubens prüfen. Dies
gilt für alle Glieder der Kirche: für Bischöfe, Priester, Diakone, Ordensleute
und alle Gläubigen. Der heilige Papst Gregor der Große hält dem Bischof in
seiner Regula pastoralis gewissermaßen einen Spiegel vor: "Über der äußeren
Beschäftigung vernachlässige der Bischof nicht das innere Leben. Oft meint er
wegen seiner hohen Stellung, er sei über alle erhaben. Von außen widerfährt ihm
unangemessenes Lob, in seinem Innern aber geht ihm die Wahrheit verloren" (2, 1).
Es geht darum – und dies ist sicher auch eine tägliche Aufgabe für
jeden Christen –, vom eigenen Ich abzusehen und sich selbst dem liebenden und
fragenden Blick Jesu auszusetzen. In der Mitte unseres Dienstes steht immer die
Begegnung mit dem lebendigen Christus, die unserem Leben die entscheidende
Richtung gibt. In Ihm blickt uns die Liebe Gottes an, die sich durch unseren
priesterlichen und bischöflichen Dienst dem Menschen in den verschiedensten
Situationen mitteilt, dem gesunden wie dem kranken, dem leidenden wie dem
schuldig gewordenen Menschen.
Der Glaube gibt den Rhythmus struktureller
Reformen vor
Gott schenkt uns seine verzeihende, heilende und heiligende Liebe.
Immer wieder kommt Er neu auf uns zu "durch Menschen, in denen er durchscheint;
durch sein Wort, in den Sakramenten, besonders in der Eucharistie. In der
Liturgie der Kirche, in ihrem Beten, in der lebendigen Gemeinschaft der
Gläubigen erfahren wir die Liebe Gottes, nehmen wir ihn wahr und lernen so
auch, seine Gemeinschaft in unserem Alltag zu erkennen" (Enzyklika Deus caritas
est, 17).
Natürlich muss in der Kirche auch institutionell und strukturell
geplant werden. Kirchliche Institutionen, Pastoralpläne und andere rechtliche
Strukturierungen sind bis zu einem gewissen Grad schlichtweg notwendig. Aber
gelegentlich werden sie als das Wesentliche ausgegeben und verstellen so den
Blick auf das wirklich Wesentliche. Sie werden jedoch nur dann ihrer
eigentlichen Bedeutung gerecht, wenn sie am Maßstab der Glaubenswahrheit
gemessen und danach ausgerichtet werden.
Letztlich muss und wird es der Glaube selbst sein, der in seiner
ganzen Größe, Klarheit und Schönheit den Rhythmus der Reform vorgibt, die
wesentlich ist und die wir brauchen. Dabei darf freilich niemals vergessen
werden, dass es immer Menschen sind, von deren Fähigkeiten und gutem Willen die
Verwirklichung von Reformmaßnahmen abhängt. So schwer es auch im Einzelfall
sein mag, so müssen in dieser Hinsicht doch immer wieder klare
Personalentscheidungen getroffen werden.
Liebe Brüder im bischöflichen Amt! Ich weiß, dass viele von Euch
die ganz berechtigte Sorge um die situationsgerechte Weiterentwicklung der
pastoralen Strukturen beschäftigt. Angesichts der augenblicklich abnehmenden
Zahl der Priester, wie leider auch der (sonntäglichen) Gottesdienstbesucher,
kommen in verschiedenen deutschsprachigen Diözesen Modelle der Um- und
Neustrukturierung der Seelsorge zur Anwendung, bei denen das Bild des Pfarrers,
das heißt des Priesters, der als Mann Gottes und der Kirche eine Pfarrgemeinde
leitet, zu verschwimmen droht.
Ich bin ganz sicher, dass Ihr, verehrte Mitbrüder, die Erstellung
dieser Konzepte nicht kühlen Planern überlasst, sondern nur solchen Priestern
und Mitarbeitern anvertraut, die nicht nur über die notwendige vom Glauben
erleuchtete Einsicht und über eine entsprechende theologische, kanonistische,
kirchenhistorische und praktische Bildung sowie über pastorale Erfahrung
verfügen, sondern denen die Rettung des Menschen wahrhaft am Herzen liegt, die
sich also, wie wir früher gesagt hätten, durch "Seeleneifer" auszeichnen und
für deren Denken und Handeln das ganzheitliche und damit das ewige Heil des
Menschen die "suprema lex" ist.
Vor allem werdet Ihr nur solchen strukturellen Reformen Eure
Zustimmung geben, die voll und ganz mit der Lehre der Kirche über das
Priestertum und den rechtlichen Normen im Einklang stehen und bei deren
Umsetzung die Anziehungskraft des Priesterberufs nicht gemindert wird. Wenn
manchmal gesagt wird, die Laien könnten sich in der Kirche nicht genug
einbringen, so liegt eine verengende Fixierung auf die Mitarbeit in kirchlichen
Leitungsgremien, auf hauptamtliche Stellen in kirchlich finanzierten Strukturen
oder auf die Ausübung bestimmter liturgischer Funktionen zugrunde. Auch diese
Bereiche haben selbstverständlich ihre Bedeutung.
Aber darüber darf man nicht das weite und offene Feld des dringend
notwendigen Laienapostolats und seine vielfältigen Aufgaben vergessen: die
Verkündigung der Frohbotschaft an Millionen von Mitbürgern, die Christus und
seine Kirche noch nicht kennen; die Katechese für Kinder und Erwachsene in
unseren Pfarrgemeinden; die karitativen Dienste; die Medienarbeit sowie das
gesellschaftliche Engagement für einen umfassenden Schutz des menschlichen
Lebens, für die soziale Gerechtigkeit und in christlichen Kulturinitiativen. An
Aufgaben für engagierte katholische Laien fehlt es fürwahr nicht, aber
vielleicht mangelt uns heute manchmal der missionarische Geist, die Kreativität
und der Mut, um auch neue Pfade zu beschreiten.
In der Ansprache an die erste Gruppe der deutschen Bischöfe habe
ich bereits kurz die vielfältigen liturgischen Dienste der Laien angesprochen,
die heute in der Kirche möglich sind: die des außerordentlichen
Kommunionspenders, zu der die des Lektors kommt wie die des Leiters von Wortgottesdiensten.
Dazu möchte ich jetzt nicht noch einmal Stellung nehmen. Wichtig ist, dass
diese Aufgaben nicht aus einem Anspruchsdenken, sondern aus dem Geist des
Dienens heraus wahrgenommen werden. Der Gottesdienst ruft uns alle in den
Dienst vor Gott, für Gott und für die Menschen hinein, in dem wir nicht uns
selber darstellen, sondern in Demut vor Gott stehen und uns für sein Licht
durchlässig machen wollen. In dieser Ansprache möchte ich noch vier weitere
Punkte kurz berühren, die mir am Herzen liegen.
Der erste ist die Glaubensverkündigung an die jungen Menschen
unserer Zeit. Die Jugend von heute lebt in einer säkularisierten, ganz aufs
Materielle ausgerichteten Kultur. Sie erlebt im Alltag – in den Medien, im
Beruf, in der Freizeit – meist eine Kultur, in der Gott nicht vorkommt. Und
doch wartet sie auf Gott. Die Weltjugendtage zeigen es uns, wie viel wartende
Bereitschaft für Gott und für das Evangelium in den jungen Menschen unserer
Zeit da ist. Unsere Antwort auf diese Erwartung muss vielschichtig sein. Die
Weltjugendtage setzen voraus, dass junge Menschen in ihren Lebensräumen,
besonders in der Pfarrei, die Begegnung mit dem Glauben empfangen können.
Da ist zum Beispiel der Dienst der Ministranten wichtig, der
Kinder und junge Menschen in Berührung mit dem Altar, mit dem Wort Gottes, mit
dem Innenleben der Kirche bringt. Es war schön, bei der Ministrantenwallfahrt
so viele junge Menschen aus Deutschland freudig im Glauben versammelt zu
finden. Setzt dieses Mühen fort und sorgt dafür, dass die Ministranten in der
Kirche wirklich Gott, seinem Wort, dem Sakrament seiner Gegenwart begegnen
können und lernen, von daher ihr Leben zu gestalten. Ein wichtiger Weg ist auch
die Arbeit mit den Chören, in denen junge Menschen Erziehung zum Schönen,
Erziehung zur Gemeinsamkeit, Freude am Mitsein im Gottesdienst und so Bildung
zum Glauben hin erfahren können.
Nach dem Konzil hat uns der Heilige Geist die "Bewegungen"
geschenkt. Sie können dem Pfarrer oder dem Bischof manchmal etwas eigenwillig
erscheinen, aber sie sind Orte des Glaubens, in denen junge und erwachsene
Menschen das Lebensmodell des Glaubens als Chance für heute erfahren. Deshalb
bitte ich Euch, mit viel Liebe auf die Bewegungen zuzugehen. Da und dort müssen
sie korrigiert, ins Ganze der Pfarrei oder des Bistums eingefügt werden. Aber
die je eigene Art ihres Charismas müssen wir achten und froh sein, dass
gemeinschaftliche Gestalten des Glaubens entstehen, in denen das Wort Gottes
Leben wird.
Das zweite Thema, das ich wenigstens kurz ansprechen möchte, sind
die kirchlichen Hilfswerke. In meiner Enzyklika "Deus caritas est" habe ich von
dem Dienst der Liebe als wesentlichem und unverzichtbarem Ausdruck des Glaubens
in der Kirche geschrieben und dabei auch das innere Prinzip der Hilfswerke
berührt. "Die Liebe Christi drängt uns", hat der heilige Paulus gesagt (2 Kor
5, 14). Der gleiche "Zwang" der Liebe (1 Kor 9, 16), der den heiligen Paulus
nötigte, in alle Welt zu gehen, um das Evangelium zu verkünden – dieser gleiche
"Zwang" der Liebe Christi hat die deutschen Katholiken veranlasst, die
Hilfswerke zu gründen, um den in Armut lebenden Menschen zu ihrem Recht auf die
Güter der Erde zu verhelfen.
Nun ist es wichtig, darauf zu achten, dass die Hilfswerke in ihren
Programmen und Aktionen wirklich diesem inneren Impuls der vom Glauben
gedrängten Liebe entsprechen. Es ist wichtig, darauf zu achten, dass sie nicht
in politische Abhängigkeiten kommen, sondern einzig ihrer Aufgabe der
Gerechtigkeit und der Liebe dienen. Dazu wiederum ist eine enge Zusammenarbeit
mit den jeweiligen Bischöfen und Bischofskonferenzen notwendig, die wirklich
die Lage vor Ort kennen und dafür zu sorgen vermögen, dass die Gabe der
Gläubigen aus dem Gewirr politischer und anderer Interessen herausgehalten und
zum Besten der Menschen verwendet wird. Der Päpstliche Rat "Cor Unum" verfügt
in diesem Sektor über umfassende Erfahrungen und wird auch gern in all diesen
Fragen beratend zur Seite stehen.
Schließlich liegt mir das Thema "Ehe und Familie" besonders am
Herzen. Die Schöpfungsordnung der Ehe, von der uns die Bibel am Ende des
Schöpfungsberichts eindrücklich spricht (Gen 2, 24), wird heute immer mehr
verwischt. So wie der Mensch sich die Welt im Ganzen neu zu montieren versucht und
dabei immer spürbarer seine Grundlagen gefährdet, so geht ihm auch der Blick
für die Schöpfungsordnung seiner eigenen Existenz zusehends verloren. Er
glaubt, sich selber in einer leeren Freiheit beliebig definieren zu können. Die
Fundamente, auf denen seine eigene Existenz und die der Gesellschaft stehen,
geraten so ins Wanken.
Für die jungen Menschen wird es schwer, zu endgültigen Bindungen
zu finden. Sie haben Furcht vor der Endgültigkeit, die nicht realisierbar und
der Freiheit entgegengesetzt scheint. So wird es auch immer schwerer, Kinder
anzunehmen und ihnen jenen dauerhaften Raum des Wachsens und des Reifens zu
schenken, der nur die auf der Ehe gründende Familie sein kann. In dieser hier
nur ganz kurz angedeuteten Situation ist es sehr wichtig, jungen Menschen zu
helfen, das endgültige Ja zueinander zu sagen, das der Freiheit nicht
entgegensteht, sondern ihre größte Möglichkeit ist. In der Geduld des
lebenslangen Miteinander kommt die Liebe zu ihrer wahren Reife. In diesem Raum
lebenslanger Liebe lernen auch die Kinder leben und lieben. So darf ich Euch
bitten, alles zu tun, damit Ehe und Familie geformt, gefördert und ermutigt
werden.
Die Kirche in Deutschland
verfügt über reiche Resourcen
Zuletzt noch ein ganz kurzes Wort zur Ökumene. All die lobenswerten
Initiativen auf dem Weg zur vollen Einheit aller Christen finden im gemeinsamen
Gebet und in der Betrachtung der Heiligen Schrift den fruchtbaren Grund, auf
dem Gemeinschaft wachsen und reifen kann. In Deutschland müssen unsere
Bemühungen vor allem den Christen lutherischen und reformierten Bekenntnisses
gelten. Zugleich behalten wir dabei die Brüder und Schwestern in den orthodoxen
Kirchen im Blick, auch wenn diese vergleichsweise weniger zahlreich sind.
Die Welt darf von allen Christen ein geeintes Bekenntnis zu Jesus
Christus, dem Erlöser der Menschheit, erwarten. Ökumenisches Engagement darf
sich daher nicht in gemeinsamen Papieren erschöpfen. Es wird sichtbar und
wirksam, wo Christen verschiedener Kirchen und kirchlicher Gemeinschaften
inmitten eines zunehmend religiös entfremdeten sozialen Umfeldes sich gemeinsam
und überzeugend zu den vom christlichen Glauben vermittelten Werten bekennen
und diese im politischen und gesellschaftlichen Handeln kraftvoll zur Geltung
bringen.
Liebe Brüder im Bischofsamt! Da ich selber aus Eurem mir so lieben
Land komme, fühle ich mich von den Leistungen wie auch von den
Herausforderungen der Kirche in Deutschland besonders berührt. All das Gute der
Kirche in unserer Heimat kenne ich nicht nur aus eigener Anschauung und
Erfahrung, sondern auch, weil mir immer wieder Bischöfe, Priester und andere
Besucher aus Europa und aus vielen Teilen der Welt vom tätigen Wohl berichten,
das ihnen seitens kirchlicher Stellen und Personen zuteil wird. Die Kirche in
Deutschland verfügt wirklich über reiche geistliche und geistige Ressourcen.
Vor allem auch der oft zu wenig wahrgenommene treue Dienst so
vieler Priester, Diakone, Ordensleute und hauptamtlicher kirchlicher
Mitarbeiter in nicht immer einfachen pastoralen Verhältnissen verdient Respekt
und Anerkennung. Ebenso bin ich aufrichtig dankbar, dass nach wie vor
zahlreiche Christen bereit sind, sich in Pfarrgemeinden und Diözesen,
Vereinigungen und Bewegungen zu engagieren und als gläubige Katholiken auch in
der Gesellschaft Verantwortung zu übernehmen. Vor diesem Hintergrund teile ich
mit Euch die feste Hoffnung, dass die Kirche in Deutschland noch
missionarischer wird und Wege findet, um den kommenden Generationen den Glauben
zu vermitteln.
Ich weiß sehr gut, liebe Brüder im Bischofsamt, um Euer
hingebungsvolles Wirken und um das so vieler Priester, Diakone, Ordensleute und
Laien in euren Diözesen. So möchte ich Euch heute erneut meine Zuneigung
bekunden und Euch ermutigen, geeint und voller Zuversicht Euren Hirtendienst zu
leisten. Ich bin sicher, dass der Herr Eure Treue und Euren Eifer mit Seinem
Segen begleitet und lohnen wird.
Die Allerseligste Jungfrau und Gottesmutter Maria, die Mutter der
Kirche und Hilfe der Christen, kann Euch, dem Klerus und den Gläubigen in
unserer Heimat die Kraft, Freude und Ausdauer erwirken, um die notwendige
Aufgabe einer echten Erneuerung des Glaubenslebens mutig und im festen
Vertrauen auf den Beistand des Heiligen Geistes anzugehen. Auf ihre mütterliche
Fürsprache und auf die Fürbitte aller in unserm Lande verehrten heiligen Männer
und Frauen erteile ich Euch sowie allen Gläubigen in Deutschland von Herzen den
Apostolischen Segen.