Die folgenden Ausführungen sind als Ergänzung zu Interpretation I gedacht. Sie stellen einen weiteren Interpretationsansatz dar.

PASSER – der Dritte im Bunde

Catull ergeht es wie unzähligen Liebenden vor ihm und nach ihm. Er findet sein Lebensglück in der Liebe zu einer Frau, kann aber keine legale Verbindung mit ihr eingehen. In c.2 ist Catull nicht nur Liebender, sondern er weiß sich von Clodia geliebt. Er nimmt diese Liebe an und gibt sie zurück. Das Wechselspiel der Liebe ist in diesem Gedicht eine Wirklichkeit, die aus der Selbstvergewisserung seines Bewußtseins kommt.

Trotz seines begeisterten Gefühls für seine Geliebte spricht Catull in der letzten Zeile von traurigen Sorgen, deren Linderung er wünscht. Seine lebhafte Liebesphantasie wird also begleitet von einer unterschwelligen Strömung der Sorge. Wie ist dieser Gegensatz der Gefühle zu verstehen?

Catull sieht keine Möglichkeit, wie seine und Clodias Liebe in eine dauerhafte Lebensordnung münden könnte. Daher tut er das, was Menschen in seiner Lage meistens tun: Er freut sich am Liebesglück der Gegenwart und verdrängt Probleme der Zukunft aus seinem Bewußtsein. Er freut sich einerseits an der unerfüllten Liebesleidenschaft (gravis ardor, doloris) seiner Geliebten, deren Denken und Fühlen ganz in der Gegenwart aufzugehen scheint, andererseits kann er sich selbst diesem Glück nicht ungeteilt hingeben, da er sich Gegenwart und Zukunft gleichermaßen bewußt ist. Während es Clodia gelingt, im Spiel mit dem Sperling für den Augenblick Trost zu finden und auf die Erfüllung des im Augenblick verwehrten Liebesglücks hofft, kann Catull aus der Vorstellung, mit dem Vogel zu spielen, keinen Trost schöpfen. Sein gegenwärtiges Liebesglück geht aus der Vorstellungskraft seines Bewußtseins (animi) hervor, ist also reflektiert, Clodia hingegen ist selbst Hingabe an die Gegenwart. Zwar liebt Catull Clodia gerade wegen ihrer Spontaneität, aber die Zukunft ihres Liebesbundes (aeternum fodus, c.109) erfordert gleiche Tiefe des Bewußtseins von Wesen und Einzigartigkeit der Liebe zwischen Mann und Frau.

Ohne Zweifel ist Catull bereit, für das Erreichen eines dauerhaften Lebensbundes mit Clodia alle seine geistigen und seelischen Kräfte anzuspannen. Macht er doch Tausende von Berechnungen, um seinem Gedicht eine vollkommene mathematische Ordnung zu geben. Aber selbst wenn Clodia Geist genug besitzt, um Catulls kunstvolle Konstruktionen zu verstehen und zu schätzen, hat sie hinsichtlich eines dauerhaften Verhältnisses nicht dieselbe Entscheidungsfreiheit wie Catull. Denn durch ihre Ehe mit Quintus Caecilius Metellus Celer ist sie bereits in eine feste Lebensordnung eingetreten, die von ihr Einhaltung ehelicher und gesellschaftlicher Verpflichtungen verlangt.

Wie in anderen seiner Gedichte gestaltet Catull einen Handlungs- oder Gedankenablauf, um einen Zustand menschlicher Existenz darzustellen, der sein eigener ist, aber wegen der Tiefe eigener Erfahrung eine allgemein menschliche Dimension erhält. Er geht von zwei Tatsachen aus und verknüpft sie: Erstens, Clodia spielt gern mit einem Spatz, und zweitens, er selbst ist sich ihrer Liebe gewiß. Da sie auf Catulls Gegenwart verzichten muß, verwandelt sich ihre Zuwendung zu dem Vogel zunehmend in Gefühle für ihn. Der körperliche Schmerz der Bisse lindert ein wenig ihr unerfülltes Liebesbegehren. Indem sich Catull in seiner Phantasie ihre gegenseitige Beziehung vergegenwärtigt, bildet sich in ihm eine doppelte Vorstellung, die wie Umkehrungen erscheinen:

Erstens, Catull sieht sich an der Stelle des Sperlings. Daher ist der menschliche Bezug von acres solet incitare morsus unübersehbar (vgl. cui labella mordebis, c.8, 18).

Zweitens, Clodia wendet sich mit Gefühlswärme einem niedlichen Vogel zu und weckt in Catull eine analoge Gefühlshaltung Clodia selbst gegenüber. Also geben sie sich beide den zärtlichen Namen "Spatz". Der Spatz wird also zu einem Kristallisationspunkt ihrer gegenseitigen Liebe.

In c.2 erlebt Catull seine Liebe zu Clodia in seiner Vorstellung als eine seinshafte Wirklichkeit. Dieses Bewußtsein der Liebe in der Vorstellung wird nicht eingeschränkt durch Clodias eheliche und gesellschaftliche Verpflichtungen, aber auch nicht beeinträchtigt durch die Gewährung heimlicher, dem Ehemann vorenthaltener Liebesgaben (furtiva munuscula, c.68,145). Catull erfährt also sein Liebesglück als reine Potenz und erhebt es sowohl zu existentiellem als auch künstlerischen Rang.

Indem das Wort PASSER sich von seiner anfänglichen konkreten Bedeutung zu einem zärtlichen Kosenamen entwickelt, findet Catull von seinen sorgevollen Gedanken an die Zukunft gleich wieder zur Gegenwart zurück. Denn CVRAS als letztes Wort schließt den Kreis zum ersten Wort PASSER, das Catulls Liebe zu Clodia erneut entzündet. Diese erneute Liebe ist sowohl Wirklichkeit als auch – vom Hintergrund nüchternen Denkens – Illusion. Der Spatz als Dritter im Bunde hält das Rad gegenwärtiger Liebe ständig in Gang.

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