CARMEN 70

Nulli se dicit mulier mea nubere malle

quam mihi, non si se Iuppiter ipse petat.

dicit: sed mulier cupido quod dicit amanti,

in vento et rapida scribere oportet aqua.

1. Im Bewußtsein seiner Liebe zu Clodia und ihrer eigenen gewichtigen Ausage (spondeischer Beginn), daß sie niemand lieber heiraten wolle als ihn, nennt Catull sie mulier mea. Das Wort mulier bedeutet Frau im allgemeinen Sinn, gelegentlich Ehefrau. Die Zusage Clodias ermutigt ihn, sie durch das Wort mulier in Besitz zu nehmen und sein Inneres durch das Aussprechen dieses Wortes in Besitz nehmen zu lassen.

2. Die ersten beiden Zeilen zeigen, daß Catull Clodias Aussage glaubt und sich dadurch in seinem Denken und Fühlen bestimmen läßt. Die Wiederholung von dicit in Zeile 3 zeigt an, daß er über Clodias Aussage noch einmal nachdenkt und sie dabei kritisch überprüft. Die Bedeutung von Worten liegt zwar fest, aber aus welcher Gesinnung und seelischer Verfassung sie gesprochen sind, kann sehr verschieden sein.

3. In Zeile 3 erkennt Catull eine Wiederspiegelung seiner eigenen seelischen Verfassung. In der Ausschließlichkeit seiner Liebe will Catull Clodia ganz für sich besitzen. Da Clodia aber durch die Ehe gebunden ist, ist sein sehnliches Verlangen unangemessen. Clodias Psyche wird durch zwei Momente zu ihrer Aussage bestimmt. Da sie seine Liebe erwidert hat und personale Liebe keine Vorbehalte kennt, will sie ihn nicht enttäuschen, die Harmonie zwischen ihnen nicht trüben und versichert ihn ebenfalls der Ausschließlichkeit ihrer Liebe. Um den schönen Augenblick zu retten, läßt auch sie sich von Catulls Wunschtraum in angenehme Selbsttäuschung mitreißen. Andererseits ist ihr instinktiv bewußt, daß ihrer Zusage keine größere Schuld trifft als der Unwirklichkeit von Catulls Verlangen.

4. Das eher unauffällige Gedicht enthüllt das Dilemma von Catulls Liebe. Da Clodia verheiratet ist, erreicht das Wesen der Liebe, sich der geliebten Person in Freiheit zuwenden zu können, nicht ihr Ziel. Unfreies Begehren aber kann nur eine unfreie Antwort bewirken.

5. Clodias Zusage ergibt nur einen Sinn, wenn sie vor dem Tod ihres Mannes gemacht wurde. In seiner Verliebtheit fragte vielleicht Catull Clodia, ob sie sich eine Heirat vorstellen könnte, wenn sie frei wäre. Vielleicht machte Clodia auch von sich aus die Bemerkung, daß sie Catull so liebe, daß, wenn sie frei wäre, nicht einmal Iuppiter den Vortritt in einer neuen Ehe ließe. Die Gewichte in beider Beziehung scheinen jedoch klar: Catull ist der um Liebe werbende, Clodia die von Liebe erfaßte und antwortende. Ein Tag nach ihrem überschwenglichen Versprechen mag ihre Stimmungslage ganz anders sein, während Catull noch ganz unter dem Eindruck der letzten Begegnung steht. Seine Reflexion über diese Diskrepanz könnte ihn zu dem Gedicht angeregt haben.

6. Catull kannte das Gedicht des Kallimachos und übernahm einige formale Elemente, besonders den Anfang der 3. Zeile, außerdem die Allgemeinheit der Aussage in der 3. und 4. Zeile. Diese Allgemeinheit der Aussage hat bei Catull jedoch zwei Seiten. Sie setzt nämlich bei seinem eigenen Verhalten an, das er als typisch für einen allzu Verliebten erkennt. Die Reaktion Clodias ist weniger der weiblichen im Gegensatz zur männlichen Psyche anzulasten, sondern ergibt sich als psychisches Gesetz aus seinem eigenen Verhalten.

7. Die reziproke psychische Verkettung wird in Zeile 4 durch lautliche Wechselbeziehungen und Palindrome (vorwärts und rückwärts gleich zu lesen) gestaltet: Die Strenge rückläufiger Gleichheit wird zunächst durch die Schreibform verdeckt, doch bereits angekündigt. Beide Pentameterhälften enthalten eine Elision, deren beide beteiligten Vokale sich jedoch umgekehrt verhalten: vent(O) Et – scriber(E) Oportet. Liest man die Zeile mit den Elisionen, ergeben sich die Palindrome venTET und scribeROPOR-TET. Das mittlere Palindrom wird durch zweimaliges TET eingerahmt, so daß man nach beiden Seiten um die Mittelachse P OPORTET lesen kann.

Die psychische Wechselwirkung scheint in dem Axialbuchstaben P konzentriert. Denn c-VPI-do in der 3.Zeile korrespondiert mit I-VPPI-ter in der 2. Zeile und teilweise mit r-API-da in der 4. Zeile. Der Unangemessenheit seiner Wünsche entspricht die Verstiegenheit ihres Vergleichs mit Iuppiter.

Epigramm 25 des Kallimachos

Seiner Ionis schwur Kallignotos, keinen Geliebten,

keine Geliebte je höher zu schätzen als sie.

Schwur's. Doch die Wahrheit reden die Leute, daß aus der Verliebten

Mund kein Schwur das Ohr ewiger Götter erreicht.

Glut der Knabenliebe entzündet ihn nun, und das arme

Mädchen bedeutet und zählt, wie die Stadt Megara, nichts.

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