CATULL (II)

Lesbia

1.       Die Frau, die Catull in seinen Gedichten als Lesbia bezeichnet, ist nach verlässlicher Überlieferung Claudia bzw. Clodia, geb. 94 , eine der drei Schwestern des Publius Clodius Pulcher und Appius Claudius Pulcher.

Spätestens 63 ist sie mit ihrem Cousin Q. Caecilius Metellus Celer verheiratet. Als praetor urbanus des Jahres 63 beteiligt er sich an der Bekämpfung Catilinas, geht 62 als Statthalter nach Oberitalien und hat 60 das Konsulat inne. Als Statthalter der provincia Narbonnensis stirbt er 59 unerwartet und macht damit die Provinz für Cäsar frei, dessen Ackergesetze er bekämpft hatte. Politische amicitia verbindet ihn mit Cicero, aber sein Bruder Q. Caecilius Metellus Nepos greift als Volkstribun des Jahres 62 Cicero wegen der Verurteilung der Catilinarier heftig an. Der besorgte Cicero wendet sich an die in Rom weilende Gattin des Metellus Celer, Claudia (Cic.fam.5,2,6), um Vermittlung.

2.       Ein Jahr später macht sich Cicero P. Clodius Pulcher zum Todfeind, als er diesen im sogenannten Bona-Dea Prozess schwer belastet. Im Jahr 59 lässt sich Clodius vom Patrizier- in den Plebejerstand versetzen, um gegen Cicero vorgehen zu können. Nun versucht Ciceros Freund T. Pomponius Atticus durch Verbindung mit Clodia deren Bruder günstig zu stimmen. In Briefen an Atticus (Att. 2,1,5; 2,9,1 u.a.) nennt Cicero Clodia boopis - die Kuhäugige, einmal vertrauter nostra boopis. Mit diesem Beinamen wird Hera, Schwester und Gattin des Zeus bezeichnet. Der stets spottlustige Cicero könnte zwei Dinge angedeutet haben: erstens, dass Clodias große Augen eine besondere Anziehungskraft ausüben, und zweitens, dass Clodia ein inzestuöses Verhältnis zu ihrem Bruder hat. Diesbezügliche Anspielungen finden sich in einigen Reden Ciceros. Auch c. 79 legt ein solches Verhältnis nahe.

3.       Aus Briefstellen Ciceros kann also hinreichend erschlossen werden, dass Clodia eine stadtbekannte Persönlichkeit war, die ihre Künste auch in der Politik einzusetzen verstand. Catull wird vermutlich von ihr gehört haben, bevor er sie zum ersten Mal sah.

Es ist anzunehmen, dass Catulls Vater Beziehungen zu Metellus Celer unterhielt und Catull so Zugang zu dessen Haus fand.

4.       In Clodia sieht Catull ein würdiges Spiegelbild seiner selbst. Sie besitzt einen unabhängigen Geist, literarische Bildung, Witz, Schlagfertigkeit, kultivierte Umgangsformen, Empfindsamkeit und Schönheit, die er in c. 86 preist. Indem er sie durch den Namen Lesbia mit Sappho vergleicht, verleiht er ihrer Persönlichkeit eine Einmaligkeit, die sie über ihre Standesgenossinnen erhebt.

5.       Clodia fühlt sich vielleicht das erste Mal in ihrem Leben um ihrer selbst willen geliebt und im Innersten angesprochen. Sie erkennt, dass Catulls Liebe ihrer Person einen geistigen Wert gibt und lässt sich von ihr erfassen und – eine begrenzte Zeit – leiten. Als der Älteren bleibt ihr andererseits bewusst, dass sie Catull die Erfüllung gegenseitiger Liebe gewährt.

6.       Seine Liebe zu Clodia hat für Catull höchste existentielle Bedeutung, da sich in ihr auch sein dichterisches Programm erfüllt. Seine innerste Erfahrung ist, dass er eine dauerhafte personale Bindung eingegangen ist und er glaubt, dass auch Clodia sich an ihn gebunden fühlt. Dies zumindest wird aus seinen Gedichten spürbar, in denen er sie mit mea Lesbia und besonders mea puella anspricht – obwohl sie doch 10 Jahre älter ist.

7.       Catulls dichterisches Programm trägt seiner Liebe zu Clodia voll Rechnung. Ohne zu wissen, wie sein Verhältnis zu ihr enden wird, hält er den jeweiligen Stand ihrer Beziehung dokumentarisch im Gedicht fest.

8.       Beide sind sich bewusst, dass ihre Liebe im Geheimen bleiben muss. Ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden besteht darin, dass Clodia durch die Ehe Verpflichtungen auferlegt sind, Catull nicht. Catull mag seine Liebe dadurch rechtfertigen, dass er die gängige aristokratische Verheiratungspraxis als Verstoß gegen wahre Liebe versteht. Wie eine Reihe von Gedichten zeigt, lehnt er die Ehe als Erfüllung der Liebe aber keineswegs ab. Carmen 70 z.B. spiegelt ein Gespräch zwischen ihm und Clodia über dieses Thema wieder.

9.       Clodia lässt sich eine Zeitlang von Catulls Liebe ganz in Besitz nehmen. Doch hat sie schon vor Catulls Erscheinen eine selbstbewusste Rolle in der Gesellschaft gespielt. Dies konnte sie auch dank ihrer ehelichen Stellung. Ihr Sonderverhältnis zu ihrem Bruder bedeutet eine fortwährende Verpflichtung in familiärer und politischer Hinsicht, offenbart aber auch einen labilen Bereich ihres Charakters.

10.   Doch wie wird sie sich nach dem Tod ihres Mannes verhalten, wenn die gewohnten Wirkungsmöglichkeiten entfallen? Welche Rolle wird sie weiterhin in der Gesellschaft spielen können? Ist es denkbar, dass sie die gewohnten gesellschaftlichen und familiären Einflussmöglichkeiten zugunsten einer dichterischen Existenzform an der Seite Catulls aufgibt?

11.   Unabhängigkeitsdrang und Eigenwille setzen sich offenbar in Clodia durch. Sie kann die Höhe der versprochenen Liebesbeziehung nicht halten, die für sie immer eine gewisse Nähe zu schöngeistig-literarischem Spiel hatte. Sie kann auch mit Catulls dichterischem Ehrgeiz nicht mithalten, weigert sich zunehmend, seinen idealen Ansprüchen zu genügen und mag den Verdacht hegen, als Objekt dichterischen Ehrgeizes zu dienen. Sie wendet sich anderen Männern zu, meidet Catull aus Schuldbewusstsein und gleitet ab in Haltlosigkeit und Ausschweifung.

12.   Catull musste einen hohen Preis für eine Liebe zahlen, die ihm gesetzlich nicht gehörte. Entgegen seiner einfühlsamen Haltung zur Ehe glaubte er an einen "immerwährenden Bund heiliger Freundschaft" (c. 109), der neben Clodias Ehe bestehen könne. Doch diese ideale Überhöhung hielt auf Dauer der konkreten Wirklichkeit nicht stand. Catull schrieb sich seine eigene Tragödie – und der Nachwelt unsterbliche Gedichte.

Stichpunkte zu: Das alternative Programm der Neoteriker

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