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Anläßlich des Kriegsendes vor 60 Jahren:

Hitlers Psychogramm

(8.5.2005)

In einer kürzlichen Fernsehsendung über den Widerstand gegen Hitler machte ein Zeitzeuge die Bemerkung, daß kaum jemand in Hitlers Gegenwart zur einer inneren Distanz fähig war. Stauffenberg habe es gekonnt. Bis zu seinem Selbstmord habe Hitler seine Autorität unbestritten behaupten können.

Ich habe vor Jahren in der einen oder anderen Hitlerbiographie gelesen, hatte aber immer den Eindruck, daß nirgends die richtige Perspektive getroffen war. Will man Hitler verstehen, muß man versuchen, ihn von innen heraus zu verstehen.

Hitler war ein extremer Idealist. Die Nation war sein beherrschendes Überich. Mit dem Schicksal der Nation verband er untrennbar sein eigenes Selbstwertbewußtsein. Die Schande der Nation war sein eigenes Unglück. Die Nation enthielt alle idealen Werte für die Gewinnung seiner eigenen Identität und mußte daher zu ihrer eigenen Identität geführt werden. Alles, was der Gewinnung dieser Identität im Wege war, mußte eliminiert werden.

Dieser nationale Idealismus war flankiert von positiven und negativen Ideenmustern. Eine absoluter idealer Wert war die Rassenreinheit, die alle nur denkbaren positiven menschlichen Eigenschaften für sich in Anspruch nahm: Treue, Pflicht, Hingabe, Ausdauer, Opfergesinnung, Gemeinschaftsgeist. Mit der Rassenreinheit verband sich die Vorstellung der Überlegenheit der germanisch-arischen Rasse. Das Gegenbild der Rassenreinheit war die Minderwertigkeit anderer Rassen, besonders der Juden.

Rassische Überlegenheit mußte erstritten und behauptet werden. Der Antrieb dafür kam von der Auffassung, daß nur der Stärkere überlebt. Dies ist als Sozialdarwinismus bekannt. Der Stärkere durfte gegenüber dem Schwächeren kein Mitleid zeigen, sondern war aufgefordert, den Schwächeren zu beherrschen und ihn seinen Zwecken dienstbar zu machen. Zu Beginn des Polenfeldzuges sagte Hitler, nun müsse man sein Herz unerbittlich gegen Mitleid verhärten.

Der nationalen Identität stand die Uneinigkeit der Parteiendemokratie im Wege. Daraus und aus dem erwähnten Sozialdarwinismus heraus entwickelte Hitler das unbedingte Führer- und Gehorsamsprinzip.

Das Streben nach idealer nationaler Identität brachte die Vorstellung des "gesunden Volkskörpers" hervor, der von Schädlingen freigehalten werden mußte. Die nationalsozialistische Partei definierte in immer umfassenderem Sinne, worin die staatliche und kulturelle Einheit der Volksgemeinschaft bestand. Wer gegen diese Definition der nationalen Identität verstieß, wurde mitleidslos verfolgt.

Indem Hitler die Identität der Nation und damit die seine bestimmte, machte er das Schicksal der Nation ganz von seiner Person abhängig. Der Führerkult bildete für Hitler die Erfüllung und Überhöhung seines eigenen Ich, in die er sich immer wieder rauschhaft hineinsteigerte. Er nahm die Rolle des sorgenden Vaters der Nation in Anspruch und erweckte damit eine erstaunliche Glaubwürdigkeit. Als die Russen gegen Ostpreußen vorrückten, gab es noch viele, die auf die Fähigkeiten des Führers vertrauten.

Hitler überhöhte sein Ich durch eine pseudoreligiöse Haltung, wenn er in seinen Reden immer wieder vom "Allmächtigen" sprach, der dem deutschen Volk zum Sieg verhelfen werde. Für Hitler gilt die antike Weisheit: Wen die Götter verderben wollen, den schlagen sie zuvor mit Wahnsinn. Ein Arzt, der mit Hitler kurz vor seinem Selbstmord zusammentraf, nannte ihn einen lebenden Leichnam, der sich von der Vorsehung erwählt glaubte und sich nun von ihr verworfen sah.

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Der christliche Glaube besagt, daß jeder Mensch vor Gott einen unendlichen Wert besitzt. Sein Selbstwertbewußtsein gewinnt der Mensch durch die Anerkennung anderer, am meisten aber durch eine lebendige Gemeinschaft mit Gott. Hitler blieb beides versagt. Denn sein Ziel, in Wien an der Akademie der Künste anzukommen, scheiterte, und der christliche Glaube bedeutete ihm nichts oder er verstand ihn nicht. Er blieb aber von seinem Wert überzeugt und glaubte, zu Großem berufen zu sein. Von der offiziellen Gesellschaft verkannt, lehnte er deren Wertwelt ab und schuf sich sein eigenes Wertesystem der Selbstbeglückung und Selbstrechtfertigung.

Hitler träumte von nationalem und eigenem Glück. Wer vom Glück träumt, gerät leicht ins Uferlose. Die Erfüllung des eigenen Glücks verbindet man mit der Vorstellung makelloser Vollkommenheit. Das war Hitlers Traum von einer Nation der Rassenreinheit.

Als Hitler "beschloß Politiker zu werden" (Mein Kampf S.225), vereinigte er die Komponenten seiner Weltanschauung zu einer in sich stimmigen dynamischen Antriebskraft. Unter diesen Komponenten gab es keine Anschauungen, die nicht schon früher vertreten wurden.

Die Dynamik von Hitlers Weltanschauung bestand in ihrer Bindungslosigkeit und grenzenlosen Offenheit. Beide waren für ihn die wichtigsten Mittel, um den Traum nationaler Größe zu verwirklichen. Nationale Stärke erforderte einheitliches Denken, Streben und Handeln aller Staatsbürger. Daher verwarf Hitler die Werte der Demokratie und schuf das Führerprinzip. Der Führer "trägt bei höchster unumschränkter Autorität auch die letzte und schwerste Verantwortung" (MK S.379).

Nationale Demütigung empfand man besonders über beträchtliche Gebietsverluste. Hier konnte Hitler nationale Gefühle an sich binden. Über die Rückgewinnung ehemaliger Gebiete hinaus aber gehörte die Gewinnung neuen Lebensraumes für die wachsende Bevölkerung zu den obersten Zielen von Hitlers politischer Weltanschauung. Die gewaltsame Eroberung neuen Besitzes sah er als ein Prinzip der Menschheitsgeschichte an. Wer immer eroberte, traf auf Besitzer und diese mußten unterworfen werden. Er glaubte, den notwendigen Gang der Geschichte erkannt zu haben und setzte alles daran, ihn als richtig zu erweisen.

Den Zielen des Führers hatte das Recht zu dienen nach dem Prinzip "Der Wille des Führers ist oberstes Gesetz."

Die Ablehung traditioneller und religiöser Werte eröffnete träumerischer Phantasie alle Schleusen zur Schaffung des neuen Menschen, der sich ganz auf die Ziele der staatlichen Gemeinschaft auszurichten hatte.

Das Endziel gesellschaftlicher Neugestaltung waren territoriale Ausdehnung und Gewinnung nationaler Überlegenheit über alle übrigen Nationen. Dieses Ziel trieb Hitler unaufhaltsam voran und erst in der Erreichung dieses Zieles sah er seine Träume verwirklicht. In seiner letzten Rede vom 30.1.45 sprach Hitler davon, daß in den ersten Jahren nach der Machtergreifung der Nationalsozialismus "erziehungsmäßig dem deutschen Volke jene Rüstung gegegeben (habe), die überhaupt erst in militärische Werte umgesetzt werden konnte."

Alle Widerstände, die sich dem Traum von diesem endgültigen Ziel entgegenstellten, wurden mit aller Härte gebrochen. Zu diesem Zweck wurde das moralische Gewissen der Menschen zwei Prinzipien rigoros unterworfen: dem Gehorsamsprinzip und dem Legalitätsprinzip. Denn der NS-Staat bestand darauf, legal an die Macht gekommen zu sein. Wer vom Willen und Denken des Führers abwich, war nicht nur von physischer Gewalt bedroht, sondern er machte sich vor seinem Gewissen schuldig. Beide Hemmschwellen zu durchbrechen, gelang nur wenigen.

Hitler beschwor die Formel: Der Führer und das Volk sind eins. Er beanspruchte für sich das oberste nationale Bewußtsein und die höchste moralische Instanz. Mit der obersten nationalen Verantwortung übernahm er auch das Gewissen jedes Einzelnen und Unzählige überließen es ihm. Die Identifizierung des deutschen Volkes mit der "nationalsozialistischen Idee" war so vollkommen, daß sich überzeugte Nationalsozialisten nicht vorstellen konnten, daß es für Deutschland nach seiner Niederlage noch eine Zukunft geben könne, die den Namen deutsch verdiente. Daß Magda Göbbels ihre Kinder ermordete, ist von diesem Vorstellungshintergrund nur konsequent.

Wer die Herrschaft des Stärkeren von der Position des Verkannten und Unterdrückten aus zum obersten Prinzip macht, hat einen untrüglichen Instinkt für jede Schwäche und Blöße des Gegners. Von antisemitischen Gefühlen waren auch viele Christen nicht frei. Ich halte es für zweifelhaft, ob den Kirchenführungen bewußt war, daß sie für das Regime dadurch erpreßbar wurden, daß sie nicht entschieden die jüdische Bevölkerung in Schutz nahmen. Denn jeder Nationalsozialist konnte hämisch in Jesus Christus einen Juden sehen.

Hitler hatte sich zum Gefäß des nationalen Bewußtseins gemacht. Er zeigte sich der Öffentlichkeit gewöhnlich mit finster entschlossener und verantwortungsschwerer Miene, die nicht geheuchelt war, sondern seinem Glauben an sich selbst und an die Nation entsprach. Er und mit ihm die vielen, die an ihn glaubten, redeten sich Ideale ein, waren aber schrecklich Betrogene ihres eigenen Wahns.

Eine Form des Selbstbetrugs bestand darin, daß man sich den christlichen Glauben dienstbar zu machen versuchte. Besonders in Eidesformeln verknüpfte man die Anrufung Gottes mit dem unbedingten Gehorsam dem Führer gegenüber. Der Diensteid der Soldaten der Wehrmacht lautete: "Ich schwöre bei Gott diesen heiligen Eid, daß ich dem Führer des Deutschen Reiches und Volkes Adolf Hitler, dem Obersten Befehlshaber der Wehrmacht, unbedingten Gehorsam leisten und als tapferer Soldat bereit sein will, jederzeit für diesen Eid mein Leben einzusetzen."

Verzicht auf klares Denken führt zu Selbstbetrug und zunehmender geistiger Verwirrung. Die Nationalsozialisten suchten ihre Wurzeln im Germanentum und dessen religiöser Welt. Von dieser Perspektive her wurde das Christentum lediglich als eine geschichtliche Ausprägung des Religiösen unter anderen verstanden, war also austauschbar. Die Bezeichnung "Gott" hatte traditionell den Klang des Christlichen, aber ein Nationalsozialist konnte darunter auch das göttliche Walten schlechthin verstehen, das auch für die Germanen galt. Wer nicht nationalsozialistisch dachte, dessen christliches Gewissen wurde durch die Ablegung dieses Soldateneides schwer belastet. Den nationalsozialistischen Machthabern mußte die Ablegung dieses Eides eine fortwährende zynische Genugtuung bereiten.

Hitler als oberster Betrogener und geistig Verwirrter hing sich an zwei Fäden religiöser und moralischer Rechtfertigung: Erstens, die Juden hatten Jesus Christus gekreuzigt und er übernahm die ihnen gebührende Bestrafung. Zweitens, viele Staaten fürchteten sich vor dem Sowjetkommunismus. Hitler machte sich zum Vollstrecker des Willens dieser Staaten, die Sowjetunion und damit den Kommunismus zu besiegen. Diese Vorstellung geisterte in den Köpfen vieler Nationalsozialisten umher, und Großadmiral Dönitz brachte den ernsthaften Vorschlag in die Kapitulationsverhandlung, die Engländer und Amerikaner sollten sich nun mit den Deutschen verbünden und gegen die Sowjetunion kämpfen.

Hitler war auch oberster Betrüger. Wenn auf nationalsozialistische Gewalt- und Greueltaten die Rede kam, gab es viele Deutsche, die glaubten, daß solches ohne Wissen Hitlers geschah. Dabei zeigt sich eine moralische Doppelbödigkeit. Hitler wollte die Vernichtung der Juden, aber er wählte euphemistische Begriffe wie "Sonderbehandlung" oder "Endlösung", um das konkrete Grauen von sich fernzuhalten. Er hielt gewissermaßen ästhetische Distanz zu seinen eigenen Vernichtungsbefehlen.

Ich verneige mich vor allen Opfern des Nationalsozialismus, vom ersten bis zum letzten. Denn es konnte dem deutschen Volk nichts Besseres widerfahren als den bitteren Kelch der Niederlage bis zur Neige zu trinken. Auf diese Weise kann der Hauptakteur Hitler nicht als Held verehrt werden und die nationalsozialistische Idee, die man für unsterblich hielt, löste sich in höllischen Gestank auf.

 

 

 

 

Begonnen: April 2005

 

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