Antrieb und Ziel menschlichen Lebens
bei
Sallust
Wie andere bedeutende
Persönlichkeiten römischer Politik und Literatur, die aus dem Provinzadel
stammten, war Sallust voller Bewunderung für die geschichtliche Größe Roms und
war bereit, seine besten geistigen und moralischen Kräfte für den römischen Staat
einzusetzen (Cat. 3). Die eigensüchtigen Interessen des stadtrömischen Adels
ernüchterten ihn zwar, aber er hielt daran fest, daß Rom seine einzigartige
Machtstellung einer einstmals vorbildlichen sittlichen und religiösen
Werteordnung verdankte.
Am Anfang von
Sallusts Geschichtsschreibung steht also eine ideelle Konzeption: Er entwirft
ideale Maßstäbe individuellen und gemeinschaftsbezogenen Menschseins, die er
gleichsetzt mit der Wirklichkeit römischer Frühgeschichte.
Römisches Denken
sieht in wichtigen ethischen Werten weniger Begriffe als vielmehr innere
Antriebskräfte, die den einzelnen Menschen oder die menschliche Gemeinschaft
erfüllen und sie zu entsprechendem Handeln antreiben. Manche von ihnen werden
in den Rang von Gottheiten erhoben. So verehrt der Römer seinen GENIVS und die
Römerin ihre IVNO als die ihnen innewohnenden männlichen und weiblichen
Lebenskräfte. Im staatlichen Bereich werden Tugenden Tempel errichtet, z.B.
CONCORDIA, FIDES, PAX, LIBERTAS, VIRTUS, HONOS. Ihre Verehrung soll sowohl dem
Staat als auch dem einzelnen Bürger innere Stärke verleihen.
Für Sallust ist virtus der Inbegriff aller sittlichen
Tugenden. Sie ist geistige Vorstellung (Prinzip), Antriebskraft
und Vollbringung.
Das Ziel menschlichen
Strebens sieht Sallust in gloria erfüllt.
Beide Begriffe entsprechen Gegebenheiten der römischen Staats- und
Gesellschaftsordnung:
1. Höchster ethischer Bezugspunkt des Einzelnen
ist die staatliche Gemeinschaft, die es zu schützen, zu erhalten und zu fördern
gilt. In dieser Funktion kann sich virtus
als Opferbereitschaft, Furchtlosigkeit und Tapferkeit bewähren.
2. Die Leitung des Staates liegt in den Händen
gleichberechtigter Adeliger. Die in der Gleichberechtigung wirkende virtus ermahnt jeden, das ihm gesetzte
Maß persönlicher Macht nicht zu überschreiten.
3. Auch in den Prinzipien von Annuität und
Kollegialität der Staatsämter verwirklicht sich virtus als Selbstbeschränkung
unter Gleichberechtigten.
4. Zwischen den Adeligen und den übrigen Bürgern
besteht ein Klientelverhältnis, das durch das Prinzip der fides geordnet wird. Der Adel versteht sich als Leitbild römischer
Tugenden.
5. Die Beziehungen der Adeligen unter einander
werden durch das Prinzip der amicitia
geregelt. Die virtus gebietet hier,
die gegenseitigen Verpflichtungen einzuhalten.
6. Ethische Norm für jedes Mitglied einer
Adelsfamilie ist es, die Leistungen früherer Familienmitglieder zu erreichen
oder zu übertreffen.
7. Der Stolz einer jeden Adelsfamilie sind die
Leistungen der Vorfahren. Auch im geschichtlichen Bewußtsein aller Römer dienen
große Persönlichkeiten der Vergangenheit als Vorbilder.
8. Wettbewerbsgeist unter den Adelsfamilien
kommt dem Wohl aller zugute, da das Gemeinwesen die Führung durch die jeweils
Besten erfordert. Lohn für die geleistete Anstrengung ist Zuwachs an
persönlicher auctoritas und dignitas.
9. Zum Kreis der einflußreichen Adeligen zu
gehören, erfordert geistige Wachheit und rastloses Tätigsein.
10. Durch außergewöhnliche Leistungen kann der
Einzelne künftigen Generationen als Vorbild dienen und damit dem Weiterbestand
der staatlichen Gemeinschaft nützen.
In allgemeinster Form
läßt sich römisches Ethos bestimmen als Selbstverpflichtung des
Einzelnen und der Gemeinschaft dem gegenüber, was sie ihrer Lebensordnung schulden.
In biographischer
Hinsicht dient die Wesensbestimmung des Menschen Sallust zur
Selbstvergewisserung seines eigenen Lebensweges. Zwar macht virtus als geistige Ausrichtung des
Lebens jeden Berufsweg wertvoll (2,7), aber Sallust strebt nach der höchsten
Form menschlicher Sinnerfüllung. Diese ist neben der politischen Laufbahn die
Geschichtsschreibung (3,2).