DARSTELLUNG JESU IM TEMPEL

Kap.53

Ich sehe vor einem sehr bescheidenen Haus ein Paar aufbrechen.

Auf einer Außentreppe steigt eine ganz junge Frau mit ihrem Kind auf den Armen herab, das in ein weißes Tuch gewickelt ist.

Ich erkenne in ihr unsere Mutter. Sie ist immer dieselbe, bleich und blond, schlank und liebenswürdig in all ihrem Tun. Sie ist weiß gekleidet und trägt einen hellblauen Mantel. Auf dem Haupt hat sie einen weißen Schleier. Mit großer Sorgfalt trägt sie ihr Kind. Am Fuß der Treppe erwartet sie Joseph mit einem grauen Esel. Joseph ist ganz hellbraun gekleidet, Tunika und Mantel sind von derselben Farbe. Er schaut auf Maria und lächelt ihr zu. Als Maria zum Eselein kommt, legt sich Joseph die Zügel desselben auf den linken Arm und hält für einen Augenblick das ruhig schlummernde Kind, um es Maria zu ermöglichen, sich bequem in den Sattel des Esels zu setzen. Dann gibt er ihr Jesus zurück, und sie machen sich auf den Weg.

Joseph geht zu Fuß an der Seite Marias; er hält die Zügel des Tieres in der Hand und achtet darauf, daß es den rechten Weg nimmt und nicht strauchelt. Maria hält Jesus auf ihrem Schoß und aus Furcht, die Kälte könne ihm schaden, legt sie noch ein Stück ihres Mantels über ihn.

Die Straße, die sich nicht gerade in einem musterhaften Zustand befindet, zieht sich durch eine Gegend, die in dieser Winterszeit öde aussieht. Bisweilen begegnet den beiden ein Reisender oder ein anderer holt sie ein; aber es sind nur wenige unterwegs.

Dann erscheinen Häuser und hierauf die Mauern einer Stadt. Die beiden Verlobten gehen durch ein Tor in die Stadt, und es beginnt die Strecke auf dem sehr holprigen städtischen Pflaster!

Die enge Straße ist uneben und steigt etwas an zwischen hohen Häusern mit schmalen, niedrigen Türen und kleinen Fenstern zur Straße hin. In der Höhe zeigt sich der Himmel in kleinen, hellblauen Ausschnitten zwischen den Häusern und Terrassen. Auf der Straße herrscht viel Geschrei; es begegnen ihnen viele Menschen zu Fuß oder beritten, auch Eseltreiber mit beladenen Tieren. Andere führen platzraubende Kamelkarawanen an. Einmal begegnet ihnen mit viel Hufgeklapper und Waffenklirren eine Abteilung römischer Legionäre, die jenseits eines Bogens in einer steinigen und engen Gasse verschwinden.

Joseph biegt nach links ab und nimmt einen breiteren und schöneren Weg. Im Hintergrund sehe ich eine mit Zinnen versehene Mauer, die ich schon kenne.

Maria steigt vom Esel, nahe der Pforte, wo sich eine Art Stallung für Lasttiere befindet. Ich sage Stallung; aber es ist eine Art Schuppen, besser ein Wetterdach, wo Stroh gestreut ist und Pflöcke mit Ringen angebracht sind, an denen man die Vierfüßler anbinden kann. Joseph gibt einem jungen Mann einige Münzen für etwas Heu, holt in einem Wasserschlauch aus einem einfachen Ziehbrunnen in einem Winkel Wasser und tränkt den Esel.

Dann begibt er sich wieder zu Maria, und beide betreten den Tempelbereich. Sie wenden sich einem mit Säulenhallen umgebenen Hof zu, wo die Verkäufer sind, die Jesus später energisch geißeln wird; Verkäufer von Turteltauben und Lämmern sowie die Geldwechsler. Joseph kauft zwei weiße Täubchen. Geld wechselt er nicht. Offenbar hat er schon, was er braucht.

Joseph und Maria begeben sich nun zu einer Seitentür, zu der acht Stufen führen – wie mir scheint, ist dies vor allen Türen der Fall – so daß sich der Kubus des Tempels etwas über dem normalen Boden erhebt. Dieser Tür folgt eine große Vorhalle, wie bei den Eingängen unserer großstädtischen Häuser; hier ist sie aber viel geräumiger und voller Schmuck. In ihr befinden sich rechts und links zwei Altäre oder zwei rechteckige Konstruktionen, deren Zweck ich vorläufig noch nicht einsehe. Es sind niedrige Wannen, denn der äußere Rand erhebt sich einige Zentimeter über die innere Fläche. Ein Priester eilt herbei; ich weiß nicht, ob Joseph ihn gerufen hat. Maria überreicht ihm die beiden Täubchen als Reinigungsopfer. (...) Nun scheint mir, daß der Priester Maria mit Wasser besprengt. Es muß wohl Wasser sein, denn ich sehe keine Flecken auf dem Gewand Marias. Sie hat dem Priester zusammen mit den Täubchen eine Anzahl Geldstücke gegeben (ich hatte vergessen, es zu sagen) und tritt nun mit Joseph und in Begleitung des Priesters in das eigentliche Tempelgebäude ein. (...)

Maria geht vor bis zu einer bestimmten Stelle. Dann bleibt sie stehen. Einige Meter vor ihr sind weitere Stufen, und über diesen erhebt sich eine Art Altar. (...)

Maria opfert das Kind, das nun aufgewacht ist und die unschuldigen Äuglein mit dem erstaunten Blick eines nur wenige Tage alten Kindes zum Priester hinwendet. Dieser nimmt es und hebt es mit ausgestreckten und zum Tempel hingewandten Armen empor, während er sich an den altarähnlichen Aufbau lehnt.

Der Ritus ist beendet. Das Kind wird der Mutter zurückgegeben, und der Priester geht fort. Neugieriges Volk steht da umher. Zwischen ihm macht sich ein gebeugter, hinkender Greis Platz, der sich auf seinen Stab stützt. Er muß sehr alt sein; ich schätze ihn über achtzig. Er nähert sich Maria und bittet sie, ihm für einen Augenblick den Kleinen zu geben. Lächelnd erfüllt Maria seinen Wunsch.

Simeon, von dem ich immer glaubte, daß er zur Klasse der Priester gehöre, der aber nur ein einfacher Gläubiger ist, wenigstens dem Gewand nach zu urteilen, nimmt ihn entgegen und küßt ihn. Jesus lächelt ihm zu, mit dem unsicheren Gesichtsausdruck, der den Säuglingen eigen ist. Es scheint, als beobachte er ihn neugierig; denn der Alte weint und lacht zu gleicher Zeit, und die in die Falten fließenden Tränen bilden ein Glitzerwerk und fallen dann auf den langen weißen Bart, nach dem Jesus seine Händchen ausstreckt. Jesus ist noch das Kindlein, das von allem angezogen wird, was sich bewegt, und alles anfassen möchte, um es besser anschauen zu können. Joseph und Maria lächeln, ebenso wie die Anwesenden, die die Schönheit des Kleinen loben.

Ich höre die Worte des heiligen Alten und bemerke den erstaunten Ausdruck Josephs (Luk 2,29-32) und die Rührung Marias und der kleinen Menge, die teils erstaunt und bewegt ist, teils bei den Worten des Greises in ein Gelächter ausbricht. Es sind auch bärtige Männer da und aufgeblasene Mitglieder des Synedriums, die den Kopf schütteln und mit ironischem Mitleid auf Simeon schauen. Sie glauben wohl, er habe infolge des Alters den Verstand verloren.

Das Lächeln Marias verschwindet, und eine starke Blässe tritt in ihr Antlitz, als Simeon ihr das Leiden ankündigt (Luk 2,34-35). Obwohl sie davon weiß, durchbohren die Worte ihre Seele. Maria nähert sich Joseph, um Trost zu finden und drückt in ihrem Schmerz das Kind an die Brust. Wie eine dürstende Seele trinkt sie die Worte Anna des Phanuels in sich hinein, die sich als Frau ihres Schmerzes erbarmt und ihr verheißt, daß der Ewige ihr die Stunde der Leiden mit übernatürlicher Kraft lindern werde. «Frau! Dem, der seinem Volk den Erlöser geschenkt hat, wird die Macht nicht fehlen, seinen Engel auszusenden, damit er dir in deinem Leid beistehe. Die Hilfe des Herrn hat den großen Frauen Israels nie gefehlt, und du bist viel größer als Judith und Rachel (Judith 13; Richt 4,17-23). Unser Gott wird dir ein Herz aus lauterem Gold geben, damit es dem Meer der Schmerzen gewachsen sei; denn du bist die größte Frau der Schöpfung, die Mutter. Und du, Kindlein, gedenke meiner in der Stunde deiner Sendung!»

 

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