DIE VERKÜNDIGUNG
Kap.23
Angelehnt an eine der beiden längeren Seiten befindet
sich eine Bettstatt: ein niedriges Bettgestell ohne Rand, bedeckt mit dicken
Matten oder Teppichen. Man könnte meinen, sie seien über einem Brett
ausgebreitet oder über ein Schilfrohrgeflecht. Denn sie liegen sehr flach und
ohne Wölbung wie bei unseren Betten.
An der anderen Längsseite steht ein Regal mit einer
Öllampe, Pergamentrollen und einer mit Sorgfalt zusammengelegten Näharbeit.
Seitlich davon, gegen die Tür hin, die geöffnet ist und in den Garten führt,
aber von einem vom Winde bewegten Vorhang verhängt ist, sitzt auf einem Schemel
die Jungfrau.
Sie spinnt weißen seidenweichen Flachs. Ihre kleinen
Hände, nur um ein wenig blasser als der Flachs, drehen flink die Spindel. Das
jugendliche Gesichtchen ist wunderschön, leicht geneigt und lächelt, als ob sie
einen lieblichen Gedanken hege oder verfolge.
Es ist still im Häuschen und im Garten. Es liegt tiefer
Friede sowohl auf dem Antlitz Marias als auch auf ihrer Umgebung. Friede und Ordnung.
Alles ist sauber und wohlgeordnet, und der Wohnraum ist bescheiden im Aussehen
und in der Einrichtung, fast kahl wie in eine Zelle, hat aber etwas Strenges
und Königliches an sich wegen der großen strahlenden Reinheit und der Sorgfalt,
mit der die Stoffe des Ruhelagers angeordnet sind, die Buchrollen, die Lampe,
der kleine Krug aus Bronze mit einem Strauß blühender Zweige, Zweige eines
Pfirsich- oder Birnbaums, ich weiß es nicht, aber sicher von einem Fruchtbaum
mit weißlichen, ins Rötliche übergehenden Blütenblättern.
Maria beginnt leise zu singen und erhebt dann leicht die
Stimme. Sie geht nicht zu lautem Gesang über. Aber es ist schon eine Stimme,
die in der Kammer vibriert und ein Schwingen der Seele wiedergibt. Ich verstehe
die Worte nicht, die sicher hebräisch sind. Aber da das Wort Jehova oft
wiederkehrt, nehme ich an, daß es irgendein heiliges Lied ist, vielleicht ein
Psalm. Vielleicht erinnert sich Maria an die Gesänge im Tempel. Es muß eine
liebliche Erinnerung sein, denn sie legt nun ihre Hände, die noch Spindel und
Faden halten, in den Schoß, erhebt das Haupt, und lehnt es rückwärts an die
Wand. Während ein sanftes Rot ihr Gesicht färbt, verliert sich der Blick in
irgendeinem lieblichen Gedanken; Tränen leuchten auf, ihre Augen jedoch laufen
nicht über, sondern werden nur größer. Zugleich strahlen diese Augen und
lächeln einem Gedanken zu, den sie wahrnehmen und der sie ablenkt von allem
Sichtbaren. Das Antlitz Marias, das aus dem weißen, höchst einfachen Kleid
rosenrot hervorwächst
93
und umrahmt wird von Zöpfen, die sie wie eine Krone um
das Haupt gewunden hat, gleicht einer prächtigen Blume.
Der Gesang verwandelt sich in Gebet: «Höchster Herr und
Gott, zögere nicht weiterhin, deinen Diener zu senden, damit er den Frieden auf
Erden bringe! Erwecke die Zeit der Gnade und die Jungfrau, fruchtbar und rein
für die Ankunft deines Gesalbten! Vater, heiliger Vater, erlaube deiner Magd,
ihr Leben für diesen Zweck zu opfern! Gestatte mir, erst dann zu sterben, wenn
ich dein Licht und deine Gerechtigkeit auf Erden gesehen und erkannt habe, daß
die Erlösung sich vollzogen hat! O heiliger Vater, sende der Erde die Sehnsucht
der Propheten! Sende deiner Magd den Erlöser! Möge in der Stunde, in der mein
Tag sich dem Ende zuneigt, für mich deine Wohnstätte sich öffnen, wenn ihre
Tore schon geöffnet worden sind von deinem Gesalbten für alle, die auf dich
gehofft haben! Komm, komm, o Geist des Herrn! Komm zu deinen Gläubigen, die auf
dich warten! Komm, du Friedensfürst! ...»
Maria bleibt in diesem Verlangen versunken.
Der Vorhang flattert stärker, wie wenn ihn jemand, der
dahinter steht, rüttelte, um ihn zur Seite zu schieben.
Und sieh da: ein Licht, weiß wie mit Silber vermischter
Perlenglanz, erleuchtet die leicht gelblichen Wände, belebt die farbigen
Stoffe, vergeistigt das erhabene Gesicht Marias. In diesem Licht, und ohne daß
der Vorhang zurückgezogen wird vor dem Geheimnis, das sich nun vollzieht – im
Gegenteil, schon rührt er sich nicht mehr und hängt vielmehr steif an den
Türpfosten herab, als wäre er eine Wand, die das Innere vom Äußeren trennt –
verneigt sich tief der Erzengel.
Er muß notgedrungen das Aussehen einer menschlichen
Gestalt annehmen; aber es ist dennoch ein überirdisches. Aus welchem Fleisch
ist diese herrliche, leuchtende Gestalt wohl gebildet? Aus welcher Substanz hat
Gott sie materiell gestaltet, um sie den Sinnen der Jungfrau sichtbar zu
machen? Nur Gott ist der Herr dieses Stoffes und kann ihn in solch vollkommener
Weise benützen.
Da sind ein Gesicht, ein Körper, Augen, Mund, Haare und Hände
wie bei uns. Aber es handelt sich nicht um unsere undurchsichtige Materie. Es
ist ein Licht, das die Farbe des Fleisches, der Augen, der Haare und der Lippen
angenommen hat; ein Licht, das sich bewegt und lächelt, das schaut und spricht.
«Gegrüßet seist du Maria, voll der Gnade!»
Die Stimme klingt wie ein lieblicher Akkord, wie Perlen,
die auf kostbares Metall geworfen werden.
Maria fährt zusammen und schlägt die Augen nieder. Noch
mehr erschrickt sie, als sie dieses leuchtende Wesen in etwa einem Meter
Entfernung auf den Knien sieht, die Hände über der Brust gekreuzt und in den
Augen den Ausdruck unendlicher Ehrfurcht.
94
Maria steht auf, schmiegt sich an die Wand und wird
abweschselnd bleich und rot. Ihr Antlitz verrät Schrecken und Bestürzung.
Unbewußt preßt sie die Hände auf die Brust und verbirgt sie unter den weiten
Ärmeln; sie beugt sich fast vor, als wolle sie ihren Körper so weit wie möglich
verbergen. Ein Ausdruck lieblicher Schamhaftigkeit.
«Nein, fürchte dich nicht! Der Herr ist mit dir! Du bist
gebenedeit unter den Frauen.»
Aber Maria fürchtet sich immer noch. Woher ist dieses
außergewöhnliche Wesen gekommen? Ist es ein Abgesandter Gottes oder einer des
Verführers?
«Nein, fürchte dich nicht, Maria!» wiederholt der
Erzengel. «Ich bin Gabriel, der Engel Gottes; mein Herr hat mich zu dir
gesandt. Fürchte dich nicht, denn du hast Gnade gefunden bei Gott! Und jetzt
wirst du in deinem Schoß empfangen; du wirst einen Sohn gebären und sollst ihm
den Namen Jesus geben; dieser wird groß sein und wird der Sohn des
Allerhöchsten genannt werden. (Und er wird es wirklich sein.) Und Gott, der
Herr, wird ihm den Thron Davids, seines Vaters, geben, und er wird in Ewigkeit
herrschen über das Haus Jakobs, und seines Reiches wird kein Ende sein.
Begreife, o heilige Jungfrau, Geliebte des Herrn, seine gesegnete Tochter,
berufen, die Mutter seines Sohnes zu werden, den du gebären wirst!»
«Wie kann das geschehen, wenn ich keinen Mann anerkenne?
Vielleicht will der Herrgott das Opfer seiner Magd nicht annehmen und will
nicht, daß ich Jungfrau bleibe aus Liebe zu ihm?»
«Nicht vermittels eines Mannes wirst du Mutter sein,
Maria; du bist die ewige Jungfrau, die Heilige Gottes. Der Heilige Geist wird
sich in dich hinabsenken, und die Kraft des Allerhöchsten wird dich überschatten.
Daher wird heilig genannt werden, der aus dir geboren wird und Sohn Gottes ist.
Alles vermag der Herr, unser Gott. Elisabeth, die Unfruchtbare, hat in ihrem
Alter einen Sohn empfangen, welcher der Prophet deines Sohnes sein wird, um
seine Wege zu bereiten. Der Herr hat von ihr die Schmach genommen, und ihr
Andenken wird unter den Völkern bleiben und verbunden sein mit deinem Namen,
wie der Name ihres Kindes mit dem deines Heiligen, und bis zum Ende der
Jahrhunderte werden die Völker euch glücklich preisen wegen der Gnade des
Herrn, die über euch kam und besonders über dich. Elisabeth ist nun im sechsten
Monat und ihre Last wird ihr zur Freude, und diese wird noch größer werden,
wenn sie von deiner Freude erfährt. Bei Gott ist nichts unmöglich, Maria, du
Gnadenvolle. Was soll ich meinem Herrn sagen? Laß dich in keiner Weise
verwirren! Er wird sich um dich sorgen, wenn du dich ihm anvertraust. Die Welt,
der Himmel und der Ewige warten auf dein Wort.»
Nun kreuzt Maria ihrerseits die Hände über der Brust,
verbeugt sich tief und spricht: «Siehe die Magd Gottes! Es geschehe mir nach
seinem Worte!»
95
Der Engel erstrahlt voller Freude. Er betet an, denn
sicherlich sieht er den Geist Gottes sich niederlassen über die Jungfrau, die
sich in Ergebung beugt; dann verschwindet er, ohne den Vorhang zu bewegen, den
er über das heilige Geheimnis gebreitet läßt.