Maria Magdalena salbt Jesus als Sünderin und als Jüngerin
Alle vier Evangelisten berichten, daß eine
Frau während eines Gastmahles Jesu Füße oder Haupt salbte (Mk 14,3-9; Mt
26,6-13; Lk 7,36-50; Joh 12,1-8). Leider versucht keiner der Verfasser von Herders
theologischem Kommentar zum Neuen Testament die Unstimmigkeiten in den vier
Versionen auszuräumen. Bei Lukas ist es eine Sünderin, die Jesus während
eines Gastmahles im Haus des Pharisäers Simon aufsucht. Das bei den
anderen drei Evangelisten erwähnte Gastmahl findet unmittelbar vor Jesu Leiden
statt. Während bei Markus und Matthäus als Gastgeber Simon der Aussätzige
genannt wird, ist es bei Johannes Maria, die Schwester Marthas und des
Lazarus, die Jesus die Füße salbt. Es handelt sich also um zwei verschiedene
Ereignisse, wobei Markus und Matthäus die Gastgeber verwechseln.
In Kapitel 277 sagt Jesus zu M. Valtorta
über Magdalenas zweimalige Salbung:
...Auch in Bethanien
hat Maria diese Geste wiederholt. Es gibt persönliche Gesten, die
sich wiederholen und eine Person und ihre Eigenart kennzeichnen.
Unverwechselbare Gesten! Doch, wie es sich geziemte, war die Geste in
Bethanien weniger erniedrigend und vertraulicher in ihrer ehrfürchtigen
Anbetung.
Viele Fortschritte hat
Maria seit dieser Morgendämmerung ihrer Erlösung gemacht.(...) Maria,
verschieden in der wiedergewonnenen Würde der Frau wie in der Kleidung, ist nun
eine andere, einfach wie meine Mutter in der Frisur, im Blick; in der Haltung
und im Reden neu; so war es auch eine neue Art, mich zu ehren durch dieselbe
Geste. Sie nimmt ihren letzten Salbtopf, den sie für mich aufbewahrt hat, und
gießt ihn aus über meine Füße und mein Haupt, ohne Tränen und mit einem Blick,
den die Liebe und die Sicherheit, Vergebung erlangt zu haben und gerettet zu
sein, erstrahlen läßt. Jetzt kann Maria mein Haupt berühren und salben. Reue
und Liebe haben sie gereinigt mit dem Feuer der Seraphim, und sie selbst ist
nun ein Seraph.
A. MAGDALENA IM HAUS
DES PHARISÄERS SIMON (Kap.276)
B. DAS GASTMAHL IN BETHANIEN (Kap.641)
Ich sehe einen reich
ausgestatteten Saal. Ein großartiger Kronleuchter hängt von der Decke herab,
und seine vielen Lampen sind angezündet. An den Wänden hängen kostbare Teppiche
und stehen geschnitzte Sessel, die mit Elfenbein und Metall eingelegt sind.
In der Mitte des
Saales befindet sich eine große Tafel, die aus vier im Quadrat aufgestellten
Tischen besteht. Die Tafel ist sicher für die vielen Gäste (alles Männer) so
hergerichtet und mit schönen Tischdecken und kostbarem Geschirr gedeckt worden.
Wertvolle Krüge und Becher stehen bereit, und viele Diener kommen und gehen und
bringen Speisen und Weine. Der Fußboden ist sehr schön, und das Licht der
Öllampen spiegelt sich darin. Außen um das Quadrat der vier Tische herum befinden
sich die Sitzgelegenheiten, die schon alle von den Eingeladenen eingenommen
worden sind.
Es kommt mir vor,
als wäre ich in der halbdunklen Ecke im Hintergrund des Saales, neben einer
Türe, die nach außen hin geöffnet ist, vor der aber ein schwerer Teppich oder
Gobelin vom Türbalken herunterhängt.
Auf der dem Eingang
gegenüberliegenden Seite sitzt der Hausherr mit den wichtigsten Gästen. Er ist
ein älterer Herr und trägt eine weite, weiße Tunika, die an den Hüften von
einem gestickten Gürtel zusammengehalten wird. Das Gewand hat auch am Hals, am
Ende der Ärmel und am unteren Saum Borten mit gestickten Motiven. Doch das
Gesicht des Alten gefällt mir nicht. Es ist bösartig, kalt, hochmütig und
gierig.
Ihm gegenüber sitzt
mein Jesus. Ich sehe ihn von der Seite, fast von hinten. Er trägt sein übliches
weißes Gewand und Sandalen; die Haare sind in der Mitte gescheitelt und haben
die gewohnte Länge.
Ich bemerke, daß er
und auch seine Tischgenossen nicht sitzen, also nicht aufrecht am Tisch sitzen,
sondern liegen. Bei der Vision von der Hochzeit zu Kana habe ich nicht auf
diese Besonderheit geachtet; ich habe nur gesehen, daß alle beim Essen den
linken Arm aufstützten; doch schienen sie nicht zu liegen, vielleicht weil die
Liegebetten weniger prächtig und viel kürzer waren. Hier stehen richtige
Betten; sie gleichen modernen Diwanen.
Jesus hat neben sich
Johannes, und da er seinen linken Ellbogen aufstützt (wie alle), ist Johannes
zwischen dem Tisch und der Person Jesu eingekeilt. Er berührt mit seinem
Ellbogen die Seite Jesu, ohne ihn jedoch beim Essen zu hindern; vielmehr
erlaubt er ihm, sich vertraulich an seine Brust zu legen, wenn er will.
Von den Frauen ist
keine zugegen. Alle reden, und der Hausherr wendet sich ab und in voller
affektierter Herablassung und offenbarer Geringschätzung Jesus zu. Er will
offensichtlich ihm und den Anwesenden zeigen, daß er Jesus mit der Einladung in
sein reiches Haus eine große Ehre erweise; ihm, dem armen Propheten, den viele
etwas überspannt finden...
Ich sehe, daß Jesus
höflich und ruhig antwortet. Er hat ein sanftes Lächeln für den, der ihm Fragen
stellt, und ein leuchtendes Lächeln, wenn der, welcher mit ihm spricht oder ihn
auch nur anblickt, Johannes ist.
Dann sehe ich, wie
der reiche Vorhang an der Türe sich bewegt und eine junge, schöne, vornehm
gekleidete und sorgfältig frisierte Frau hereinkommt. Ihr reiches, blondes,
kunstvoll hergerichtetes Haar bildet einen wahren Schmuck. Es scheint, als
trage sie einen goldenen, verzierten Helm, so sehr glänzt ihr Haar. Wenn ich
ihr Kleid mit dem Gewand vergleiche, das die Jungfrau Maria stets trägt, so ist
dieses hier ungewöhnlich reich und pompös. Schnallen auf den Schultern;
Schmuckstücke, die den Ausschnitt auf der Brust zusammenhalten; Goldkettchen,
die die Linie der Brust unterstreichen, und ein Gürtel, der mit Gold und
Edelsteinen verziert ist. Das ganze Kleid hebt die Linien des wunderschönen
Körpers hervor. Auf dem Kopf hat die Frau einen Schleier, der so dünn ist ' daß
er absolut nichts verhüllt. Er dient nur dazu, ihren Reiz zu erhöhen. An den
Füßen trägt sie kostbare Sandalen aus rotem Leder mit goldenen Schnallen, deren
Riemen um die Knöchel geschnürt sind.
Alle, außer Jesus,
wenden sich um, sie anzuschauen. Johannes sieht nur kurz hin und wendet seinen
Blick wieder Jesus zu. Die anderen starren sie mit sichtlicher, teils
böswilliger Gier an. Aber die Frau schaut sie
nicht an und kümmert
sich nicht um das Geflüster, das sich bei ihrem Eintreten erhoben hat, und um
das Zuzwinkern von seiten Anwesender. Jesus tut, als ob er nichts bemerke. Er
fährt fort, mit dem Hausherrn zu reden.
Die Frau nähert sich
Jesus und kniet zu Füßen des Meisters nieder. Sie stellt ein Gefäß auf den
Boden, das die Form eines bauchigen Kruges hat, und nimmt den Schleier vom
Haupt, indem sie eine kostbare Haarnadel entfernt, mit der er an der Haartracht
befestigt war; dann streift sie auch die Ringe von den Fingern und legt alles
auf das Bett zu den Füßen Jesu nieder. Schließlich nimmt sie die Füße Jesu in
ihre Hände, zuerst den rechten, dann den linken, löst die Riemen der Sandalen
und legt sie auf den Boden. Unter Tränen küßt sie diese Füße, legt ihre Stirn
darauf und liebkost sie, und die Tränen rinnen wie Regen, der im Lampenschein
glitzert, von den anbetungswürdigen Füßen Jesu herab.
Jesus wendet langsam
das Haupt, nur ganz wenig, und seine tiefblauen Augen ruhen einen Augenblick
auf dem geneigten Kopf. Ein Blick der Vergebung! Dann richtet er seinen Blick
wiederum zur Mitte und läßt ihrem Herzenserguß freien Lauf.
Aber die anderen
nicht. Sie spötteln, blinzeln sich zu und grinsen. Der Pharisäer setzt sich
einen Augenblick auf, um besser sehen zu können, und in seinem Blick spiegeln
sich Verlangen, Ärger und Ironie. Sein Verlangen nach dieser Frau ist
offenkundig. Verärgert ist er, weil die Frau so frei eingetreten ist und die
anderen denken könnten, daß sie... öfters in diesem Haus zu Gast ist. Die
Ironie gilt Jesus.
Aber die Frau
kümmert sich um nichts. Sie weint unaufhörlich und lautlos. Nur große Tränen
und seltenes Schluchzen. Dann löst sie sich die Haare, zieht die goldenen
Spangen heraus, die ihre Frisur halten, und legt auch sie neben Ringe und
Haarnadel. Die goldenen Haarsträhnen fallen über ihre Schultern. Sie ergreift
sie mit ihren beiden Händen und fährt damit über die mit Tränen benetzten Füße
Jesu, solange, bis diese trocken sind. Dann taucht sie die Finger in das Gefäß
und nimmt daraus eine gelbliche, wunderbar duftende Salbe. Der Duft, der an
Lilien und Tuberosen erinnert, breitet sich im ganzen Saal aus. Die Frau greift
ohne zu geizen in das kleine Gefäß und salbt und küßt und liebkost die Füße.
Jesus schaut ab und
zu mit liebevoller Barmherzigkeit auf sie. Johannes, erstaunt über diesen
Tränenausbruch, schaut hin und kann seinen Blick nicht mehr von Jesus und der
Frau abwenden. Er blickt bald auf ihn, bald auf sie.
Das Gesicht des
Pharisäers wird immer düsterer. Ich höre hier die bekannten Worte des
Evangeliums, und ich höre sie in einem Ton und von einem Blick begleitet, die
den mißgünstigen Greis zwingen, das Haupt zu senken.
Ich höre die Worte
der Vergebung, die Jesus an die Frau richtet, die sich darauf entfernt, indem
sie ihre Schmucksachen zu den Füßen Jesu zurückläßt. Sie hat sich ihren
Schleier um den Kopf gewickelt und darin, so gut es ging, die aufgelösten Haare
verborgen. Jesus legt ihr mit den Worten: "Geh in Frieden!" die Hände
auf das gesenkte Haupt, einen Augenblick nur, doch mit überaus liebevoller
Gebärde.
B. DAS GASTMAHL IN BETHANIEN (Kap.641)
(...) Lazarus
betritt an der Seite Jesu den Saal. Hinter ihnen kommen zu zweit oder in
größeren Grüppchen die Apostel. Zuletzt die beiden Schwestern des Lazarus mit
Maximinus. (...)
Jesus setzt sich
lächelnd an seinen Platz und betrachtet Maria, die sich mit ihrer Schwester
anschickt, wie eine Magd zu dienen. Sie bietet die Gefäße für die Reinigung und
die Handtücher an, gießt dann den Wein in die Kelche und stellt nach und nach
die Platten mit den Speisen auf die Tische, sowie sie die Diener aus der Küche
bringen oder sie von den Anrichten herüberreichen, auf denen sie sie
aufgeschnitten haben.
Obwohl die beiden
Schwestern alle Geladenen zuvorkommend bedienen, konzentriert sich ihre
Aufmerksamkeit natürlich auf die beiden, die ihnen am teuersten sind: Jesus und
Lazarus.
Auf einmal sagt
Petrus, der herzhaft zugreift: «Sieh einer an! Erst jetzt bemerke ich, daß alle
Gerichte so zubereitet sind wie in Galiläa. Ich fühle mich... Ja, ich fühle
mich wie bei einem Hochzeitsmahl. Doch hier fehlt es nicht an Wein, wie damals
in Kana.»
Maria mischt dem
Apostel lächelnd einen neuen Kelch mit bernsteinfarbenem, klarem Wein. Aber sie
sagt nichts.
Es ist wieder
Lazarus, der erklärt: «Es war auch wirklich die Absicht meiner Schwestern,
besonders Marias, ein Mahl zu bereiten, bei dem sich der Meister wie in Galiläa
fühlen würde; wie in seinem Galiläa, das, wenngleich auch nicht vollkommen, so
doch besser, viel besser als diese Gegend hier ist ...»
«Damit er sich wie
zu Hause fühlt, müßte Maria mit am Tisch sein. In Kana war sie dabei. Und
ihretwegen hat der Meister das Wunder gewirkt», bemerkte Jakobus des Alphäus.
(...)
Maria des Lazarus
verläßt den Saal, während Martha Tabletts auf die Tische stellt mit den
schönsten ersten Feigen, grünen Fenchelstengeln, frischen geschälten Mandeln,
goldenen Orangen und Erdbeeren oder Himbeeren – ich weiß es nicht – die noch
röter leuchten neben dem blassen Smaragdgrün des Fenchels und der Blumen und
dem milchigen Weiß der Mandeln und der kleinen Melonen, oder einem ähnlichen
Obst... es scheinen die kleinen grünen Melonen aus Unteritalien zu sein.
«Gibt es denn schon
solche Früchte? Ich habe noch nirgends reife gesehen», sagt Petrus, der die
Augen weit aufreißt, als er die Erdbeeren und die Melonen sieht.
«Sie sind zum Teil
vom Küstengebiet jenseits von Gaza, wo ich einen Garten mit diesen Früchten
habe, zum Teil von den Sonnenterrassen über dem Haus, den Gewächshäusern für
die empfindlicheren Pflanzen, die vor dem Frost geschützt werden müssen. Ein
römischer Freund hat mir gezeigt, wie man sie anbaut... Es war das einzige
Gute, das er mich gelehrt hat...» Sein Gesicht verfinstert sich. Martha
seufzt... Doch Lazarus wird sofort wieder der perfekte Gastgeber, der seine
Gäste nicht traurig stimmen möchte. «Auf den Landgütern um Baiae und Syrakus
und am weiten Golf von Sybaris pflegt man diese Köstlichkeiten so anzubauen, um
sie vor der Zeit genießen zu können. Eßt: die letzten Früchte der Orangenbäume
Libyens, die ersten der sonnigen Melonenfelder Ägyptens und der Gärten Latiums,
die weißen Mandeln unserer Heimat, die zarten Bohnen, die verdauungsfördernden
Stengel, die nach Anis schmecken. (...)
Maria Magdalena
kommt wieder herein. Sie bringt eine Amphore mit schlankem Hals, der in einem
Schnabel endet und elegant wie eine Vogelkehle geschwungen ist. Der wertvolle
gelbliche Alabaster hat einen leichten Rosaton, wie die Haut mancher Blondinen.
Die Apostel sehen sie an, vielleicht in Erwartung einer besonderen Leckerei.
Aber Maria geht nicht in die Mitte des U, das die Tische bilden und wo ihre
Schwester sich befindet. Sie geht hinten an den Liegen vorbei und bleibt
zwischen Jesus und Lazarus auf der einen und den beiden Jakobus auf der anderen
Seite stehen.
Sie öffnet das
Alabastergefäß und hält die Hand unter den Schnabel, um einige Tropfen einer
dicken Flüssigkeit aufzufangen, die langsam aus dem geöffneten Krug quillt. Der
intensive Geruch von Tuberosen und anderen Essenzen, ein herrlicher Duft,
verbreitet sich im Saal. Doch Maria ist nicht zufrieden mit dem wenigen, das
heraustropft. Sie bückt sich und schlägt den Hals der Amphore kurz und fest
gegen die Lehne des Ruhebettes Jesu. Der dünne Hals fällt zu Boden und
bespritzt den Marmor mit duftenden Tropfen. Nun hat die Amphore eine größere
Öffnung und das zähflüssige Öl läuft heraus.
Maria stellt sich
hinter Jesus und träufelt das dicke Öl auf das Haupt ihres Meisters, befeuchtet
damit alle Locken, reibt sie ein und bringt sie dann wieder in Ordnung mit
einem Kamm, den sie aus ihrem Haar zieht * Das angebetete Haupt ihres Jesus!
Sein rotblondes Haar glänzt und leuchtet wie dunkles Gold nach dieser Salbung.
Das Licht des Leuchters, den die Diener angezündet haben, spiegelt sich auf dem
blonden Haupt wie auf einem herrlich verzierten Bronzehelm. Der Duft ist
betäubend. Er dringt in die Nase, steigt in den Kopf und reizt fast wie
Nießpulver, so stark ist er, da das Öl im Übermaß verwendet wird.
Lazarus, der hinter
sich schaut, lächelt, als er sieht, mit welcher Sorgfalt Maria die Haare Jesu
salbt und dann kämmt, damit alles wieder schön in Ordnung ist nach dieser
duftenden Einreibung. Sie achtet nicht darauf, daß ihre Zöpfe immer weiter auf
den Hals und bald schon auf den Rücken herabgleiten, da nun der Kamm fehlt, der
sie zuvor zusammen mit den Nadeln gehalten hat. Auch Martha schaut zu und
lächelt. Die anderen unterhalten sich leise und mit unterschiedlichem
Gesichtsausdruck.
Aber Maria ist noch
nicht zufrieden. Es ist noch viel Öl in dem Gefäß mit dem abgebrochenen Hals,
und das dichte Haar Jesu ist schon genug gesalbt. Da wiederholt Maria die
Liebesgeste eines fernen Abends. Sie kniet vor dem Ruhebett nieder, löst die
Schnallen der Sandalen Jesu und zieht sie ihm aus. Dann taucht sie die Finger
ihrer schönen schlanken Hand in das Gefäß, entnimmt ihm so viel Salbe als
möglich und reibt damit die nackten Füße ein, Zehe um Zehe, dann die Fußsohle,
die Ferse und den Knöchel, nachdem sie den Saum des Leinenkleides
zurückgestreift hat, und schließlich den Rist. Sie verweilt an der Stelle, wo
die furchtbaren Nägel ihn durchbohren werden. Als sie keinen Balsam mehr findet
in dem Gefäß, zerbricht sie es auf dem Boden. Und da ihre Hände nun frei sind,
zieht sie die großen Haarnadeln aus dem Haar, löst die schweren Zöpfe auf und
wischt mit diesen goldenen, lebenden, weichen, fließenden Strähnen das
überflüssige Öl von den Füßen Jesu.
Judas – der bisher
geschwiegen und mit lüsternen, neidvollen Blicken die schöne Frau und den
Meister, dessen Kopf und Füße sie salbt, betrachtet hat – spricht jetzt laut.
Es ist die einzige Stimme lauten Tadels; denn die anderen, nicht alle, nur
einige, haben ihrem erstaunten Unmut nur durch Gesten oder leiser Worte Luft
gemacht. Judas hingegen, der sogar aufgestanden ist, um die Salbung der Füße
Christi besser sehen zu können, sagt unfreundlich: «Was für eine unnütze,
heidnische Verschwendung! Mußte das sein? Und dann sollen die Vorsteher des
Synedriums nicht von Sünde sprechen! Das sind Handlungen einer unzüchtigen
Kurtisane, und sie passen nicht zu dem neuen Leben, das du jetzt führst, o
Frau. Sie erinnern zu sehr an deine Vergangenheit!»
Die Beschimpfung ist
so unverschämt, daß alle bestürzt sind. Keiner bleibt ruhig. Einige setzen sich
auf ihren Lagern auf, andere springen auf die Füße, und alle starren Judas an,
als ob er plötzlich den Verstand verloren hätte.
Martha wird rot, und
Lazarus springt auf, schlägt mit der Faust auf den Tisch und ruft: «In meinem
Haus...» Doch dann schaut er Jesus an und beherrscht sich.
«Ja, ihr schaut mich
an. Alle habt ihr in euren Herzen gemurrt. Aber nun, da ich es ausgesprochen
habe, da ich offen gesagt habe, was ihr denkt, seid ihr sofort bereit, mir
Unrecht zu geben. Ich wiederhole, was ich gesagt habe. Ich will nicht sagen,
daß Maria die Geliebte des Meisters ist. Aber ich möchte betonen, daß gewisse
Handlungen sich weder für sie noch für ihn geziemen. Maria hat unklug und auch
ungerecht gehandelt. Ja! Warum diese Verschwendung? Wenn sie die Erinnerung an
ihre Vergangenheit tilgen wollte, hätte sie das Gefäß und das Öl mir geben
können. Es war mindestens ein Pfund reinstes Nardenöl. Und sehr wertvoll. Ich
hätte es für wenigstens dreihundert Denare verkauft, denn Nardenöl dieser Art
kostet so viel. Und ich hätte auch das Gefäß verkaufen können, denn es war sehr
schön und kostbar. Das Geld hätte ich den Armen gegeben, die uns immer
umlagern. Es reicht ja nie für alle. Und morgen in Jerusalem werden uns
unzählige um Almosen bitten.»
«Das ist wahr»,
stimmen die anderen bei. «Sie hätte etwas für den Meister verwenden können und
das übrige ...»
Maria von Magdala
scheint taub zu sein. Sie trocknet immer noch die Füße Jesu mit ihren
aufgelösten Haaren, die nun unten schon schwer von Öl und dunkler als oben auf
dem Kopf sind. Die Füße Jesu, von der Farbe alten Elfenbeins, sind so glatt und
weich, als hätten sie eine neue Haut bekommen. Maria legt Jesus wieder die
Sandalen an und küßt jeden Fuß vorher und nachher noch einmal. Sie ist taub für
alles, was nicht ihre Liebe zu Jesus ist.
Jesus verteidigt
sie, legt eine Hand auf das zum letzten Kuß über seinen Fuß gebeugte Haupt und
sagt: «Laßt sie. Warum betrübt und kränkt ihr sie? Ihr wißt nicht, was sie
getan hat. Maria hat nicht unziemlich gehandelt, sondern ein gutes Werk an mir
vollbracht. Die Armen werdet ihr immer unter euch haben. Ich aber verlasse euch
bald. Sie werdet ihr immer haben, mich aber habt ihr nicht immer. Den Armen werdet
ihr immer Almosen geben können. Mir, dem Menschensohn unter den Menschen, könnt
ihr bald keinerlei Ehre mehr erweisen, weil die Menschen es so wollen und weil
die Stunde gekommen ist. Die Liebe ist für Maria Erleuchtung. Sie fühlt, daß
meine letzte Stunde naht, und da sie dieses Salböl über meinen Leib ausgegossen
hat, hat sie es für mein Begräbnis getan. Wahrlich, ich sage euch, wo immer die
Frohe Botschaft verkündet wird, da wird auch dieser Tat ihrer prophetischen
Liebe gedacht werden. Auf der ganzen Welt und zu allen Zeiten. Wollte Gott, daß
aus jedem Geschöpf eine andere Maria würde, die den Wert der irdischen Dinge
nicht berechnet, keine Anhänglichkeit an sie nährt und nicht die geringste
Erinnerung an die Vergangenheit bewahrt, sondern alles vernichtet und mit Füßen
tritt, was fleischlich und weltlich ist, die sich selbst vernichtet und sich
verausgabt, wie sie es mit dem Nardenöl und dem Alabaster getan hat, aus Liebe
zu ihrem Herrn. Weine nicht, Maria. Ich wiederhole dir in diesem Augenblick die
Worte, die ich zu Simon, dem Pharisäer, und zu Martha, deiner Schwester, gesagt
habe: "Alles ist dir verziehen, denn du hast vollkommen geliebt." Du
hast den besseren Teil erwählt, und er wird dir nicht genommen werden. Geh in
Frieden, mein sanftes, wiedergefundenes Lamm. Geh in Frieden. Die Weideplätze
der Liebe werden auf ewig deine Nahrung sein. Steh auf. Küsse auch meine Hände,
die dich gesegnet und losgesprochen haben... Wie viele haben meine Hände
losgesprochen, gesegnet und geheilt, wie vielen haben sie Wohltaten erwiesen!
Und doch sage ich euch, das Volk, dem ich Wohltaten erwiesen habe, ist schon
bereit, diese Hände zu durchbohren ...»
Ein beklemmendes
Schweigen erfüllt die schwere, stark duftende Luft. Maria, deren offenes Haar
wie ein Mantel über ihre Schultern fällt und ihr Gesicht verschleiert, küßt die
rechte Hand, die Jesus ihr reicht, und kann ihre Lippen nicht mehr von ihr
lösen...
Martha ist gerührt.
Sie kommt herbei, nimmt das offene Haar, flicht es unter Liebkosungen in Zöpfe
und versucht, die Tränen auf den Wangen damit zu trocknen.
Niemand hat mehr
Lust zu essen... Die Worte Jesu stimmen nachdenklich. Der erste, der sich
erhebt, ist Judas des Alphäus. Er bittet um Erlaubnis, sich zurückziehen zu
dürfen. Jakobus, sein Bruder, folgt ihm, und ebenso Andreas und Johannes. Die
anderen bleiben, haben sich aber erhoben und waschen sich die Hände in den
silbernen Becken, die ihnen die Diener reichen. Maria und Martha bedienen Jesus
und Lazarus. (...)
Jesus hat sich nie
umgedreht, um auf den Weg zu blicken in seinem Rücken, auf dem im abendlichen
Dämmerschein Maria von Magdala dahergekommen ist. Sie ist immer noch sehr
elegant, aber wenigstens gut gekleidet, von einem dunklen Schleier bedeckt, der
ihre Züge und Formen verhüllt. Und als Jesus sagt: «Ich habe dich gefunden,
Geliebte», fährt Maria mit den Händen unter den Schleier und beginnt zu weinen,
leise und untröstlich. Das Volk sieht sie nicht, denn sie befindet sich auf der
anderen Seite der Hecke, die den Weg einsäumt. Nur der Mond, der hoch steht,
und der Geist Jesu sehen sie...
Erstellt: Juni 2004