DIE TAUFE JESU AM JORDAN

Kap.75

Ich sehe eine menschenleere, unbebaute und unbepflanzte Landschaft. Keine Äcker, nur vereinzelt da und dort eine Gruppe von zusammengedrängten Pflanzen. Nehmen Sie an, daß dieses öde und brache Land sich zu meiner Rechten befindet, da ich dem Norden den Rücken zukehre, und daß sich das Gebiet, von mir aus gesehen, nach Süden ausdehnt.

Auf der linken Seite hingegen sehe ich einen Fluß mit niedrigen Ufern, der von Norden kommend langsam nach Süden fließt. Die langsame Bewegung des Wassers läßt mich darauf schließen, daß das Flußbett kein starkes Gefälle hat und daß der Fluß, der durch eine so flache Ebene dahingleitet, sich dank dem Druck seines eigenen Wassers fortbewegt. Die Fortbewegung ist gerade genügend, daß das Wasser nicht als Sumpf stagniert. Das Wasser ist nicht sehr tief, so daß man auf den Grund sehen kann. Ich nehme an, daß es ungefähr einen Meter tief ist, höchstens anderthalb.

Das Flußbett hat die Breite des Arno bei San Miniato-Empoli, etwa zwanzig Meter. Das Wasser hat eine blaugrüne Farbe, und das feuchte Ufer ist wie ein grünes Band, das die von der steinigen und sandigen Wüste ermüdeten Augen erfrischt. Die innere Stimme, die, wie ich zu erklären versucht habe, mir anzeigt, was ich zu beachten habe, meldet mir, daß ich das Jordantal sehe. Ich nenne es Tal, weil man so sagt, wenn man von einem Flußlauf spricht. Doch hier ist die Bezeichnung nicht angebracht; denn ein Tal setzt Berge voraus, hier aber sind solche nirgends zu sehen.

Ich befinde mich also am Jordan, und die verlassene Gegend auf meiner rechten Seite ist die Wüste Juda.

Ob man von Wüste sprechen kann, um damit einen Ort zu bezeichnen, an dem es keine Häuser und keine arbeitenden Menschen gibt? Nach unseren Begriffen sicher nicht. Hier sind keine vom Wind gewellten Sandflächen; nur nackte Erde, mit Steinen und Geröll übersät, wie bei einem Überschwemmungsgebiet nach überstandenem Hochwasser.

In der Ferne liegen Hügel. Hier am Jordan herrscht ein tiefer Friede, ein gewisses Etwas, das über alles Gewöhnliche hinausgeht, wie man es auch am Trasimenischen See erleben kann. Es ist eine Gegend, die an Engelsflug und himmlische Stimmen erinnert. Ich kann nicht ausdrücken, was ich empfinde. Doch ich fühle mich an einem Ort, der zur Seele spricht.

Während ich dies beobachte, bemerke ich, daß die Szene sich bevölkert. Längs des rechten Ufers des Jordan (von mir aus gesehen) haben sich viele Männer in verschiedenartiger Kleidung eingefunden. Die einen machen einen volkstümlichen Eindruck, andere scheinen reich zu sein; es fehlen auch nicht etliche Pharisäer, die an ihren mit Fransen besetzten Gewändern zu erkennen sind. In ihrer Mitte, auf einem Felsblock stehend, befindet sich ein Mann, den ich, obwohl ich ihn zum ersten Mal sehe, als den Täufer erkenne. Er spricht zum Volk, und ich kann euch versichern, es ist keine sanfte Predigt. Jesus nannte Jakob und Johannes "Donnersöhne". Wie soll ich nun diesen gewaltigen Redner nennen? Johannes der Täufer verdient die Namen: Blitz, Lawine, Erdbeben... so eindrucksvoll und machtvoll ist seine Sprache und sein Gebaren. Er verkündet den Messias und fordert auf, die Herzen für seine Ankunft vorzubereiten, alles Hinderliche aus dem Weg zu räumen und die Gedanken geradeaus zu richten. Es ist eine harte und rauhe Rede. Der Vorläufer hat nicht die leichte Hand Jesu für die Wunden der Herzen. Jesus ist wie ein Arzt – auch Johannes, doch einer, der entblößt, wühlt und erbarmungslos schneidet. Während ich zuhöre – ich wiederhole die Worte nicht, denn es sind dieselben, die uns von den Evangelisten überliefert worden sind – sehe ich auf einem Sträßlein, das dem bewachsenen und schattigen Verlauf des Jordan folgt, meinen Jesus.

Jesus ist allein. Er geht langsam auf Johannes zu, der ihn nicht kommen sieht, da er ihm den Rücken zuwendet. Jesus nähert sich unauffällig, als sei auch er einer der vielen, die Johannes aufsuchen, um sich taufen zu lassen, um sich vorzubereiten und gereinigt zu sein bei der Ankunft des Messias. Nichts unterscheidet ihn von den anderen; er ist dem Gewand nach ein Landmann, dem schönen Aussehen und der Haltung nach ein Herr; doch keinerlei göttliches Merkmal hebt ihn von der Menge ab.

Es scheint, als ob Johannes eine besondere geistige Ausstrahlung empfinde. Er wendet sich um und errät sofort die Quelle dieser Ausstrahlung. Mit Ungestüm verläßt er den Felsblock, der ihm als Kanzel gedient hat, und geht eilig auf Jesus zu, der sich einige Meter von der Menge entfernt an einen Baumstamm gelehnt hat.

Jesus und Johannes schauen sich einen Augenblick fest in die Augen. Jesus mit dem sanften Blick seiner blauen Augen; Johannes mit seinen ernsten, schwarzen, blitzenden Augen. Die beiden, wie sie so nebeneinander stehen, bilden einen krassen Gegensatz. Hochgewachsen sind sie beide, dies ist die einzige Ähnlichkeit; doch in allem übrigen sind sie grundverschieden.

Jesus hat ordentliche, lange, blonde Haare, eine elfenbeinfarbene Gesichtshaut, blaue Augen und trägt ein einfaches, doch vornehm wirkendes Gewand.

Johannes ist verwildert. Die schwarzen, glatten Haare von ungleichmäßiger Länge hängen ihm auf die Schultern herab, während der schwarze Bart, der das ganze Gesicht umrandet, nicht verhindern kann, daß man die vom Fasten eingefallenen Wangen bemerkt. Die Augen sind schwarz und fieberglänzend. Die Haut ist von der Sonne und vom Wetter gebräunt und dicht behaart; er ist halbnackt und trägt ein Kamelfell, das in der Taille mit einem Lederriemen gegürtet ist und auf den Seiten Schlitze hat, durch die man die mageren Beine sehen kann. So sieht es aus, als ob ein Wilder neben einem Engel stehe.

Johannes heftet seinen durchdringenden Blick auf Jesus und ruft dann aus: «Seht, das Lamm Gottes! Wie geschieht mir, daß mein Herr zu mir kommt?»

Jesus antwortet ruhig: «Um den Ritus der Buße zu vollziehen.»

«Nie, Herr. Ich muß zu Dir gehen, um geheiligt zu werden; und nun kommst Du zu mir?»

Jesus legt Johannes, der gebeugt vor ihm steht, die Hand aufs Haupt und antwortet: «Laß es nach meinem Willen geschehen, damit alle Gerechtigkeit erfüllt und deine Handlung zum Anfang eines höheren Geheimnisses werde; damit den Menschen verkündet werde, daß sich das Sühneopfer auf dieser Welt befindet!»

Johannes betrachtet Jesus, und eine Träne läßt seinen Blick sanfter erscheinen; dann geht er voraus ans Ufer, wo Jesus den Mantel und die Tunika ablegt. Mit einer Art Beinkleider steigt er ins Wasser, wo Johannes schon auf ihn wartet. Er tauft ihn nun, und gießt ihm Wasser des Flusses über das Haupt mit einem Gefäß, das er am Gürtel hängen hatte und das, wie mir scheint, eine Muschel oder eine halbe, ausgehöhlte und getrocknete Kürbisschale ist.

Jesus ist wahrlich das Lamm. Das Lamm in der Reinheit des Fleisches, in der Bescheidenheit des Ausdrucks und in der Sanftmut des Blickes. Nachdem Johannes Jesus das Wasser über das Haupt gegossen hat, steigt Jesus aus dem Fluß und legt seine Kleider wieder an. Dann sammelt er sich zum Gebet. Währenddessen hat Johannes den Leuten versichert und bezeugt, daß er IHN erkannt habe an einem Zeichen, das ihm der Geist Gottes als unfehlbares Erkennungsmerkmal des Erlösers geoffenbart habe (die göttliche Taube und die göttliche Stimme).

 

«JOHANNES BENÖTIGTE KEIN BESONDERES ZEICHEN»

Kap.76

Jesus sagt:

«Johannes hatte es nicht nötig, mich an einem besonderen Zeichen zu erkennen. Sein schon im Mutterleib vorgeheiligter Geist besaß die übernatürliche Einsicht, die alle Menschen besitzen könnten, wenn Adam nicht gesündigt hätte. (...)

Johannes, mein Vetter, wurde von der Schuld gereinigt, als die Gnadenvolle sich liebevoll über die ehemals unfruchtbare und dann schwangere Elisabeth beugte und sie umarmte. Das Kind in ihrem Leib hüpfte auf vor Freude, als es die Schuld von seiner Seele fallen fühlte, wie ein Schorf, der sich von einer heilenden Wunde löst. Der Heilige Geist, durch den Maria die Mutter des Erlösers wurde, hat sein Erlösungswerk durch Maria, die lebende Monstranz des menschgewordenen Heiles, an diesem noch ungeborenen Kind begonnen, das dazu bestimmt war, mit mir verbunden zu sein, und dies nicht so sehr durch das Blut, als durch die Sendung, die aus uns gleichsam Lippen und Wort machte.

Johannes war der Vorläufer im Evangelium und im Los des Martyriums. Ich verlieh meine göttliche Vollkommenheit dem von Johannes eingeleiteten Evangelium und seinem Martyrium, das der Verteidigung des Gesetzes Gottes diente.

Johannes benötigte kein besonderes Erkennungszeichen. Doch für die Ungläubigkeit der anderen war ein Zeichen notwendig. Worauf hätte Johannes seine Behauptung stützen sollen? Ein unleugbarer Beweis für die geistig blinden Augen und schwerhörigen Ohren der Zweifler war notwendig. (...)

 

 

 

 

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