DAS GLEICHNIS VOM VERLORENEN SOHN
Kap 245, zweites Lehrjahr, nach dem Osterfest
Jesus spricht zu zahlreichen Zuhörern, die auf dem Besitz des
Lazarus versammelt sind.
(…)
Jesus sagt: «Laßt
uns unter das Blätterdach der Apfelbäume gehen und die Frauen und die Gefährten
versammeln. Ich werde zu allen sprechen.»
Sie gehen hinunter
und scharen die anderen um sich, so wie sie ihnen begegnen.
Dann setzen sie sich
im Kreise in den Schatten der Apfelbäume. Auch Lazarus, der mit dem Zeloten
gesprochen hatte, schließt sich der Gesellschaft an. Es sind im
ganzen zwanzig Personen.
«Hört! Es ist ein
schönes Gleichnis, das euch in vielen Fällen mit seinem Licht leiten wird.
Ein Mann hatte zwei
Söhne. Der ältere war ernst, arbeitsam, liebevoll und gehorsam. Der andere war
intelligenter als der ältere, der etwas schwerfällig war und sich gerne beraten
ließ, um nicht die Sorge eigener Entscheidungen auf sich nehmen zu müssen; aber
der jüngere war auch widerspenstig, ausgelassen, Liebhaber der Bequemlichkeit
und des Vergnügens, verschwenderisch und müßig. Die Intelligenz ist eine große
Gabe Gottes; aber sie ist eine Gabe, die weise verwendet werden muß. Sonst hat
sie die Wirkung gewisser Arzneimittel, die, wenn falsch benützt, nicht heilen,
sondern töten. Der Vater hatte das Recht und die Pflicht, ihn zu ermahnen, ein
geordnetes Leben zu führen. Aber alles war nutzlos. Er bekam nur böse Antworten
und erreichte, daß der Sohn in seinen schlechten Ansichten noch verstockter
wurde.
Eines Tages
schließlich, nach einem heftigen Wortwechsel, sagte der jüngere Sohn: "Gib
mir meinen Erbanteil. So brauche ich deine Ermahnungen und das Gejammer des
Bruders nicht mehr zu hören. Jedem das Seine, und damit setzen wir allem ein
Ende."
"Schau" '
erwiderte der Vater, "bald wirst du ganz unter den Rädern sein. Was wirst
du dann tun? Denk daran, daß ich deinetwegen nicht ungerecht bin und deinem
Bruder keinen Pfennig nehmen werde, um dir zu helfen..."
"Ich werde
nichts von dir verlangen. Sei beruhigt und gib mir meinen Teil!"
Der Vater ließ die
Ländereien und die wertvollen Gegenstände abschätzen, und da er sah, daß Geld
und Schmuckstücke genausoviel wert waren wie Haus und Grundbesitz, gab er dem
älteren die Felder und Weingärten, die Herden und Olivenhaine, und dem jüngeren
das Geld und die Wertsachen, welche dieser sofort in Geld umwandelte. Nachdem
er in wenigen Tagen alles geregelt hatte, machte er sich auf den Weg nach einem
fernen Land, wo er als großer Herr lebte und alles vergeudete in Schwelgereien
jeder Art und sich als Sohn eines Königs feiern ließ, weil er sich schämte, zu
sagen: "Ich bin ein Bauernsohn." Und somit verleugnete er seinen
Vater.
Feste, Freunde und
Freundinnen, Kleider, Wein, Spiele... ein ausschweifendes Leben... Bald sah er
seine Mittel schwinden und das Elend sich nähern. Und um das Elend noch zu
vergrößern, kam eine große Hungersnot über das Land, die sein letztes Geld
aufzehrte. Nun wäre der Sohn gern zu seinem Vater zurückgekehrt, aber sein
Stolz hinderte ihn daran. So ging er zu einem Wohlhabenden des Ortes, der in
guten Zeiten sein Freund gewesen war, und bat ihn: "Nimm mich unter deine
Knechte auf in Erinnerung an die Feste, an denen du teilgenommen hast."
Seht, wie dumm der Mensch ist! Er zieht es vor, sich unter die Peitsche eines
Herrn zu ducken, als zum Vater zu sagen: "Verzeih, ich habe gefehlt."
Dieser Jüngling hatte viele unnütze Dinge erlernt, dank seiner wachen
Intelligenz, wollte aber den Ausspruch Sirachs nicht lernen: "Wie
niederträchtig ist der, der seinen Vater verläßt, und wie verflucht von Gott
der, der seine Mutter beunruhigt." Er war intelligent, aber nicht weise.
Der Mann, an den er
sich hilfesuchend gewandt hatte, stellte den Dummkopf als Schweinehirt an, als
Dank für die mit ihm verbrachten genußvollen Stunden; denn sie waren in einem
heidnischen Land, und es gab dort viele Schweine. Schmutzig, zerlumpt, stinkend
und hungrig -denn die Nahrung war knapp wegen der vielen Diener, besonders der
bösartigen, und er, der ausländische Schweinehirt, wurde zu alledem noch verlacht
– sah er, daß die Schweine sich mit Eicheln satt fraßen und jammerte:
"Könnte ich doch meinen Bauch mit diesen Früchten füllen. Aber sie sind zu
bitter! Nicht einmal der Hunger läßt sie mir besser schmecken." Er weinte,
als er an die reichen Feste voller Gelächter, Gesängen und Tänze dachte, die er
noch vor kurzem als Verschwender geboten hatte; und an die bescheidenen, doch
sättigenden Mahlzeiten in seiner fernen Heimat, an die Portionen, die der Vater
immer selbst nach den persönlichen Bedürfnissen austeilte, während er selbst
stets mit wenig zufrieden war und sich über den gesunden Appetit seiner Kinder
freute... Und der Sohn dachte an die gefüllten Teller, die der Gerechte seinen
Dienern zuteilte, und seufzte: "Auch die letzten Knechte meines Vaters
haben genügend Brot, und ich sterbe hier vor Hunger..."
Eine lange Arbeit
des Überlegens, ein langer Kampf, um den Stolz niederzuringen! Endlich kam der
Tag, da er, wiedergeboren in Demut und Weisheit, auf die Füße sprang und sagte:
"Ich gehe zu meinem Vater. Dieser Stolz ist Dummheit, die mich gefangen
hält. Und wozu? Warum körperlich und noch mehr seelisch leiden, wenn ich
Verzeihung und Erleichterung erhalten kann? Ich gehe zu meinem Vater. Es ist
beschlossen! Aber was werde ich ihm sagen? Nun, das, was ich in dieser
Demütigung, in diesem Schmutz, unter dem beißenden Hunger gelernt habe. Ich
werde sagen: 'Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und gegen dich. Ich
bin nicht mehr wert, dein Sohn genannt zu werden, behandle mich daher wie
deinen letzten Knecht, aber laß mich unter deinem Dach weilen, damit ich dich
vorbeigehen sehen kann...' Ich werde nicht sagen können: 'Weil ich dich
liebe...' denn er würde es mir nicht glauben. Aber mein Leben soll es ihm
sagen, und er wird verstehen und mich vor seinem Tod noch segnen... Oh, ich
hoffe es; denn mein Vater liebt mich." Als er am Abend ins Dorf zurückkam,
kündigte er seinem Arbeitgeber, und, sich von Ort zu Ort durchbettelnd, kehrte
er in seine Heimat zurück. Da waren schon die väterlichen Ländereien... und das
Haus... und der Vater, der die Arbeit leitete, gealtert und abgemagert durch
den Schmerz, aber immer noch gütig. Der Schuldige blieb furchtsam stehen. Doch
der Vater, der umherschaute, erblickte ihn, eilte ihm entgegen, und als er ihn
erreicht hatte, schlang er die Arme um seinen Hals und küßte ihn. Nur der Vater
hatte in diesem traurigen Bettler seinen Sohn erkannt, und nur er hatte einen
Liebesantrieb verspürt.
Der Sohn in seinen
Armen, den Kopf an die väterliche Brust gelehnt, flüsterte unter Schluchzen:
"Vater, laß mich dir zu Füßen niederfallen." "Nein, mein Sohn!
Nicht zu Füßen! An mein Herz, das so viel ob deiner Abwesenheit gelitten hat
und das wieder aufleben muß mit dem Gefühl deiner Wärme an meiner Brust."
Der Sohn weinte noch stärker und sagte: "Oh, mein Vater! Ich habe gegen
den Himmel und gegen dich gesündigt, und ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu
heißen. Aber erlaube mir, daß ich unter deinen Knechten, unter deinem Dache
bleiben und dich sehen, dein Brot essen und deinen Wein trinken kann. Bei jedem
Bissen Brot, bei jedem deiner Atemzüge wird mein verdorbenes Herz sich
erneuern, und ich werde redlich werden..."
Doch der Vater, der
ihn immer noch in den Armen hielt, führte ihn zu den Dienern, die sich in
einiger Entfernung versammelt und die Szene beobachtet hatten, und sagte:
"Bringt rasch das schönste Gewand und ein Becken mit duftendem Wasser.
Wascht ihn, salbt ihn, kleidet ihn an, legt ihm neue Schuhe an und steckt ihm
einen Ring an den Finger. Dann nehmt ein gemästetes Kalb, schlachtet es und
bereitet ein Festmahl; denn dieser mein Sohn war tot und ist auferstanden; er
war verloren, und ist wiedergefunden worden. Ich will, daß auch er nun seine
einfache Kindesliebe wiederfindet, und meine Liebe und das Fest im Haus zu seiner
Rückkehr sollen sie ihm wiedergeben. Er soll verstehen, daß er für mich immer
der jüngste Sohn ist, wie er es in seiner fernen Kindheit war, als er an meiner
Seite ging und mich mit seinem Lächeln und Geplauder beglückte." Und die
Diener folgten dem Befehl.
Der ältere Sohn aber
war auf dem Feld und erfuhr nichts davon bis zu seiner Rückkehr. Am Abend, als
er nach Hause kam, sah er es hellerleuchtet und vernahm Musikinstrumente und
Tanzweisen. Er rief einen Diener, der vielbeschäftigt umherrannte, und fragte
ihn: "Was geschieht hier?" Und der Diener antwortete: "Dein
Bruder ist zurückgekehrt. Dein Vater hat das Mastkalb schlachten lassen, weil
er seinen Sohn gesund und von seinem großen Übel geheilt wieder besitzt, und er
hat ein Festmahl angeordnet. Wir warten nur noch auf dich, um damit
anzufangen." Der Ältere aber erzürnte, denn er betrachtete es als eine
Ungerechtigkeit, ein solches Fest für den Jüngeren zu halten, zudem der Jüngere
böse gewesen war; er wollte nicht hineingehen, sondern schickte sich an, sich
vom Haus zu entfernen. Aber der Vater, der davon erfuhr, eilte hinaus, holte
ihn ein und versuchte, ihn zu überzeugen, und bat ihn, seine Freude nicht zu
vergällen. Der Erstgeborene antwortete seinem Vater: "Du willst, daß ich
mich nicht aufrege? Du bist gegen deinen Erstgeborenen ungerecht und setzest
ihn herab. Seit ich dazu fähig war, habe ich gearbeitet und dir gedient; es
sind nun schon viele Jahre. Ich habe immer alle deine Befehle ausgeführt und
auch alle deine Wünsche erfüllt. Ich bin immer in deiner Nähe gewesen und habe
dich für zwei geliebt, um die Wunde, die mein Bruder dir zugefügt hat, zu
heilen. Und du hast mir nicht einmal ein Ziegenböcklein geschenkt, damit ich es
mit meinen Freunden genießen könnte. Ihm hingegen, der dich beleidigt und
verlassen hat, der faul und verschwenderisch gewesen ist, der nur heimkehrt,
weil er Hunger leidet, ihn ehrst du, und für ihn läßt du das schönste Kalb
schlachten. Es lohnt sich also nicht, ein guter Arbeiter und ohne Laster zu
sein! Das hättest du mir nicht antun dürfen!" Da zog der Vater den älteren
Sohn an seine Brust und sagte: "Oh, mein Sohn! Glaubst du, daß ich dich
nicht liebe, weil ich keine Festfahne für deine Arbeit hisse? Deine Werke sind
gut, und die Menschen loben dich deswegen. Aber dieser dein Bruder muß die
Achtung der Welt und seiner selbst wiedererlangen. Glaubst du, daß ich dich
nicht liebe, weil ich dir keine sichtbare Belohnung gebe? Morgens und abends,
bei jedem Atemzug und Gedanken bist du in meinem Herzen, und in jedem Augenblick
segne ich dich. Du hast den dauernden Lohn, immer bei mir zu sein, und was mein
ist, das ist dein. Aber es war gerecht, ein Mahl zu halten und ein Fest zu
feiern für diesen deinen Bruder, der tot war und zum Guten auferstanden ist,
der verloren war und in unsere Liebe zurückgeführt worden ist." Und der
Ältere gab nach.
So, meine Freunde,
geschieht es auch im Haus des Vaters. Wer glaubt, dem jüngeren Bruder im
Gleichnis zu gleichen, der soll es ihm nachtun und zum Vater gehen, damit der
Vater ihm sagen kann: "Nicht zu meinen Füßen, sondern an mein Herz, das ob
deiner Abwesenheit gelitten hat und nun über deine Rückkehr glücklich
ist." Wer dem Erstgeborenen gleicht und ohne Schuld dem Vater gegenüber
ist, soll nicht eifersüchtig auf die väterliche Freude sein, sondern daran
teilnehmen, indem er dem erlösten Bruder Liebe schenkt.»
(…)
Nov.2011