Das Gleichnis vom verlorenen Schaf
Jesus trägt dieses
Gleichnis an einem Bach nahe Kapharnaum vor. Seine Worte richten sich besonders
an Maria Magdalena, die von Martha über Ort und Zeit des Auftritts Jesu unterrichtet
worden ist. Martha handelt auf Anweisung Jesu, mit dem sie am Vortag ein
Gespräch über ihre Schwester geführt hat. Einen Tag später wird Maria Jesus im
Haus des Pharisäers Simon (des Aussätzigen) aufsuchen und ihm als Zeichen ihrer
Reue die Füße küssen und sie mit ihren Haaren trocknen.
Jesus spricht zur
Menge. Er steht am bewaldeten Ufer eines Baches vor einer Volksmenge, die sich
auf einem abgemähten Acker, der mit seinen verbrannten Stoppeln einen traurigen
Eindruck macht, versammelt hat.
Es ist Abend. Die
Dämmerung beginnt, und der Mond geht auf. Es ist ein schöner, klarer,
frühsommerlicher Abend. Herden kehren zu ihren Ställen zurück, und das Gebimmel
der Glocken vermischt sich mit dem Zirpen der Grillen oder Zikaden, ein lautes:
gri, gri! ...
Jesus nimmt eine
vorbeiziehende Schafherde zum Thema seiner Predigt. Er sagt: «Euer Vater ist
wie ein guter Hirte. Was tut der gute Hirte? Er sucht die guten Weideplätze für
seine Schäflein, wo es keine schädlichen und giftigen Pflanzen gibt, wohl aber
süßen Klee, duftende Minze und bittere, aber heilsame Kräuter. Er sucht einen
Platz, wo es außer genügender Nahrung auch kühles und reines Wasser und
schattenspendende Bäume gibt, und wo sich keine Vipern und Schlangen im Grün
der Schollen verbergen. Er gibt nicht immer den saftigsten Weiden den Vorzug,
weil er weiß, daß es dort zuweilen auch Vipern und giftige Kräuter gibt. Er
zieht die gebirgige Weide vor, wo der Tau das Gras rein und frisch erhält, aber
die Sonne die Reptilien fernhält; wo die Luft rein und bewegt ist und nicht so
schwer und ungesund wie die in der Ebene. Der gute Hirte beobachtet jedes
einzelne seiner Schäflein. Er pflegt sie, wenn sie erkranken, und heilt ihre
Wunden. Jene, die wegen allzu großer Gefräßigkeit krank werden könnten, ruft er
zu sich, und andere, die zu lange in der Nässe oder der prallen Sonne
verweilen, treibt er anderswo hin. Wenn ein Schaf wenig Appetit hat, sucht er
diesen mit bitteren, aromatischen Kräutern anzuregen. Er streckt ihm die
Kräuter mit der Hand entgegen, unter gutem Zureden, wie wenn es sich um einen
Menschen handle.
So macht es auch der
gute Vater im Himmel mit seinen auf der Erde irrenden Kindern. Seine Liebe ist
der Stab, der sie sammelt, seine Stimme ist die Führung, seine Weideplätze sind
sein Gesetz, und sein Schafstall ist der Himmel.
Manchmal aber läuft
ein Schäflein fort. Er hatte es sehr lieb! Es war jung, rein, schön und weiß
wie eine Wolke am Frühlingshimmel. Der Hirte hat ihm immer liebevolle Blicke
zugeworfen und ist stets darauf bedacht gewesen, es ihm an nichts fehlen zu
lassen, damit es seine Liebe erwidere. Aber das Schäflein läuft davon.
Auf dem Weg am Rand
der Weide hat sich ein Versucher herangemacht. Er trägt keinen einfachen
Hirtenkittel, sondern ein vielfarbiges Gewand. Er hat nicht den ledernen Gürtel
mit der kleinen Axt und dem herunterhängenden Messer, sondern einen goldenen
Gürtel, an dem silberne Glöcklein hängen, die wie Lerchenstimmen klingen, und
Gefäße mit berauschenden Essenzen... Er trägt nicht den Krummstab, mit dem der
gute Hirte die Schäflein sammelt und verteidigt; und wenn der Krummstab nicht
genügt, ist er bereit, sie mit Axt und Messer und auch mit dem Leben zu
verteidigen. Dieser Verführer, der vorübergeht, hat in der Hand ein mit Perlen
besetztes Rauchfaß, aus dem ein betörender Rauch, der gleichzeitig Duft und
Gestank ist, aufsteigt, während das Glitzern der Schmuckstücke, unechter
Schmuckstücke, die Augen blendet. Er geht singend daher und streut Salz aus,
das auf der dunklen Straße glitzert.
Neunundneunzig
Schafe schauen ihn an und bleiben wo sie sind.
Das hundertste, das
jüngste, das Lieblingsschaf, macht einen Sprung und verschwindet hinter dem
Verführer. Der Hirte ruft nach ihm, aber es kehrt nicht zurück. Es läuft
rascher als der Wind, um den Vorübergegangenen einzuholen; um sich beim Laufen
zu stärken, kostet es von dem Salz, schlingt es in sich hinein und verspürt
darauf ein Brennen und ein fremdartiges Gefühl, das es verführt, nach dem
tiefen Wasser im Dunkel des Waldes zu lechzen. Und in der Wildnis verliert es
sich, immer hinter dem Verführer herlaufend; es fällt, steht auf, fällt
wieder... Ein-, zwei-, dreimal fühlt es an seinem Hals die Umarmung von
Schlangen, und in seinem Durst trinkt es schmutziges Wasser, und da es hungrig
ist, frißt es ekelerregende Blätter und Kräuter.
Was tut indessen der
gute Hirte? Er bringt die neunundneunzig Schafe in Sicherheit; dann macht er
sich auf den Weg und sucht solange, bis er Spuren des verlorenen Schäfleins
gefunden hat. Da dieses nicht zu ihm zurückkehrt und seine Einladung in den
Wind schlägt, geht er zu ihm. Und er sieht es von weitem, trunken vom Geifer
der Schlangen, so trunken, daß es keine Sehnsucht nach dem geliebten Antlitz
verspürt, sondern darüber spottet. Und es fühlt sich schuldbewußt, gleichsam
als Dieb, der in eine fremde Wohnung eingedrungen ist, so schuldbewußt, daß es
keinen Mut mehr hat aufzuschauen... Aber der Hirte wird nicht müde... Er geht
weiter, sucht und sucht und folgt ihm. Er findet seine Spur. Weinend sieht er
auf den Spuren des verlorenen Schäfleins Wollfetzen: Fetzen der Seele;
Blutspuren; verschiedene Vergehen; Schmutz: Beweis seiner Wollust. Er geht
weiter und holt es ein.
Ah! Ich habe dich
gefunden, geliebtes Schäflein. Ich habe dich eingeholt! Wie weit bin ich
deinetwegen gelaufen, um dich in den Schafstall zurückzuholen! Neige nicht
beschämt den Kopf. Deine Sünde ist in meinem Herzen begraben. Niemand außer
mir, der ich dich liebe, wird es erfahren. Ich werde dich verteidigen vor
fremder Kritik. Ich werde dich mit meiner Person decken und dir ein Schild sein
gegen die Steinwürfe der Ankläger. Komm! Bist du verwundet? Oh, zeige mir deine
Wunden. Ich kenne sie. Aber ich möchte, daß du sie mir zeigst mit dem
Vertrauen, das du hattest, als du noch rein warst und mich, deinen Hirten und
Gott, mit unschuldigen Augen ansahst. Sieh, da sind sie. Sie haben alle einen
Namen. Wie traurig sie doch sind! Wer hat dir so tiefe Wunden im Grunde deines
Herzens geschlagen? Der Versucher, ich weiß es! Er, der keinen Hirtenstab und
keine Axt hat, aber dessen vergifteter Biß in die Tiefe dringt. Und hinter ihm
stachen dir die falschen Edelsteine seines Weihrauchfasses in die Augen: Sie
haben dich verführt mit ihrem Glitzern... Aber es war nur Höllenschwefel, der
ans Licht gezogen wurde, um dir das Herz zu verbrennen. Schau, wie viele
Wunden! Welch zerrissenes Fell, wieviel Blut, wie viele Dornen!
O arme, kleine,
enttäuschte Seele! Aber sage mir: wenn ich dir verzeihe, wirst du mich dann
wieder lieben? Sage mir: wenn ich die Arme nach dir ausstrecke, wirst du dann
herbeieilen? Sage mir: hast du nicht Durst nach echter, guter Liebe? Nun, komm
und werde wieder neu geboren. Kehre auf die heiligen Weiden zurück. Weine!
Deine Tränen, mit den meinen vermischt, waschen die Spuren deiner Sünde ab, und
ich will dir meine Brust und meine Venen öffnen, weil du vom Übel, das dich
verbrannt hat, aufgezehrt bist, und ich sage zu dir: "Nähre dich und
lebe."
Komm, daß ich dich
in meine Arme nehme. Wir werden schnell auf heilige und sichere Weiden gehen.
Du wirst alles von dieser Stunde der Verzweiflung vergessen. Und die
neunundneunzig Schwestern, die guten, sie werden jubeln bei deiner Rückkehr;
denn ich sage dir, mein verirrtes Schäflein, daß ich dich, von weither kommend,
gesucht, eingeholt und gerettet habe; man feiert mehr ein verlorenes Schaf, das
zurückkehrt, als die neunundneunzig Gerechten, die sich nie vom Schafstall
entfernt haben.»
Jesus hat sich nie
umgedreht, um auf den Weg zu blicken in seinem Rücken, auf dem im abendlichen
Dämmerschein Maria von Magdala dahergekommen ist. Sie ist immer noch sehr
elegant, aber wenigstens gut gekleidet, von einem dunklen Schleier bedeckt, der
ihre Züge und Formen verhüllt. Und als Jesus sagt: «Ich habe dich gefunden,
Geliebte», fährt Maria mit den Händen unter den Schleier und beginnt zu weinen,
leise und untröstlich. Das Volk sieht sie nicht, denn sie befindet sich auf der
anderen Seite der Hecke, die den Weg einsäumt. Nur der Mond, der hoch steht,
und der Geist Jesu sehen sie...
Erstellt: Juni 2004