DER FREITAG VOR DEM EINZUG IN JERUSALEM; 1. JESUS UND JUDAS VON KERIOTH

Kap.637

«Ihr könnt gehen, wohin ihr wollt. Ich werde heute mit Judas und Jakobus hierbleiben. Ich erwarte die Jüngerinnen», sagt Jesus zu seinen Aposteln, die sich im Laubengang des Hauses versammelt haben. Und er fügt hinzu: «Sorgt aber dafür, daß ihr alle vor Sonnenuntergang zurück seid. Und seid vorsichtig. Versucht unbemerkt zu bleiben, um Repressalien zu vermeiden.»

(...)

«Ich werde mich ganz neu einkleiden für den Einzug in die Stadt. Und du, Meister?» fragt Johannes.

«Ich auch. Ich werde das Purpurgewand anziehen.»

«Dann wirst du einem König gleichen!» sagt der Lieblingsjünger bewundernd, der ihn in Gedanken schon in dem herrlichen Gewand sieht...

«Ja, wenn ich nicht daran gedacht hätte! Den Purpur habe ich schon vor Jahren besorgt...» prahlt Iskariot.

«Wirklich? Oh, wer hätte das gedacht ... Der Meister ist immer so bescheiden.»

«Zu bescheiden! Nun ist es aber an der Zeit, daß er König wird. Genug des Wartens! Wenn er nicht ein König auf dem Thron sein will, dann soll er wenigstens seiner Würde entsprechend gekleidet sein. Ich denke an alles.»

«Du hast recht, Judas. Du kennst dich aus in der Welt. Wir sind nur arme Fischer...» sagen jene vom See demütig... Wie so oft im Licht der Welt, im trügerischen Zwielicht der Welt, erscheint das minderwertige Metall eines Judas edler als das rohe, aber reine, ehrliche und aufrichtige Gold der galiläischen Herzen...

Jesus, der mit dem Zeloten und den Söhnen des Alphäus gesprochen hat, wendet sich um und betrachtet Iskariot und dann die ehrlichen und demütigen Männer, die sich schämen, weil sie im Vergleich zu Judas so... mangelhaft sind... und er schüttelt den Kopf, ohne etwas zu sagen. Doch als er sieht, daß Iskariot sich die Sandalen schnürt und seinen Mantel umlegt, so als wolle er fortgehen, fragt er: «Wohin gehst du?»

«In die Stadt.»

«Ich habe doch gesagt, daß ich dich mit Jakobus hierbehalte.»

«Ach so! Ich dachte, du hättest Judas, deinen Bruder, gemeint. Dann ... bin ich also praktisch ein Gefangener... Ha, ha, ha!» Er lacht bösartig.

«Ich glaube, in Bethanien gibt es weder Ketten noch Gitter. Es gibt nur den Wunsch deines Meisters. Und ich wäre glücklich, sein Gefangener zu sein», bemerkt der Zelote.

«Oh, gewiß! Es war nur ein Scherz... Nur... Ich hätte eben gerne Nachrichten von meiner Mutter gehabt. Sicher sind auch von Kerioth Pilger nach Jerusalem gekommen, und...»

«Nein. In zwei Tagen werden wir alle in Jerusalem sein. Jetzt bleibst du hier!» sagt Jesus entschieden.

Judas besteht nicht darauf.

(...)

Judas ist nun allein mit Jesus und Salome. Er will nicht mit ihnen zusammen sein, kehrt ihnen den Rücken und geht zur Jasminlaube.

Jesus blickt ihm nach, beobachtet ihn. Er sieht, daß Judas – nachdem er so getan hat, als würde er sich setzen – hinten wieder hinausschleicht, zwischen den Hecken aus Rosen, Lorbeer und Buchsbaum hindurch, die den eigentlichen Garten von den Kräuterbeeten trennen, wo die Bienenstöcke stehen. Von dort aus kann man durch eine Seitentür in der Mauer des großen Gartens hinausgelangen. (...)

Die Augen Jesu, der sich auf die Zehenspitzen stellt und einige Schritte zur Seite geht, um zu sehen, was Iskariot macht, sprühen Flammen.

Maria Salome bemerkt es, ahnt – obgleich sie ihrer kleinen Statur wegen nicht viel sehen kann – was am Ende des Parkes vor sich geht, und murmelt: «Der Herr sei uns gnädig!»

(...)

Judas ruft einen Diener, der ihm eine Gartentür öffnen soll.

Jesus ruft laut: «Judas, warte auf mich! Ich muß mit dir sprechen. (...) Öffne das Tor, Jonas. Ich möchte mit meinem Jünger ein wenig hinausgehen. Und wenn du in der Nähe bleibst, brauchst du es hinter uns nicht wieder abzuschließen. Ich werde bald zurück sein», sagt Jesus gütig zu dem Landarbeiter, der mit dem großen Schlüssel in der Hand sprachlos dasteht. Das kleine Tor aus schwerem Eisen quietscht, als er es öffnet, und auch der Schlüssel knirscht beim Umdrehen.

«Ein Tor, das selten geöffnet wird», sagt der Diener lächelnd. «Ja, du bist eingerostet! Wenn man müßig ist, wird man rostig... Der Rost, der Staub, die Lausbuben... Es ist wie bei uns Menschen... Wenn wir nicht immer an unserer Seele arbeiten!»

«Gut, Jonas! Das ist ein weiser Gedanke, um den dich viele Rabbis beneiden würden.»

«Oh, es sind meine Bienen, die mich auf diese Gedanken bringen – und deine Worte. Ganz besonders deine Worte. Aber auch die Bienen belehren mich, denn nichts ist stumm, wenn man nur zu hören versteht. Und ich sage mir: Wenn sie, die Bienen, den Befehlen dessen gehorchen, der sie erschaffen hat, obgleich sie nur Tierchen sind und ich mir nicht vorstellen kann, wo sie ein Hirn und ein Herz haben könnten, wie könnte dann ich, der ich Hirn, Herz und Verstand habe, nicht tun, was sie tun, und fortwährend, unermüdlich arbeiten in Befolgung dessen, was der Meister uns lehrt, damit meine Seele immer schöner wird und rein von Rost, Staub, Schmutz, Stroh, Steinen und anderen Bosheiten, mit denen der höllische Feind sie bedroht.»

«Das hast du sehr schön gesagt. Mache es wie deine Bienen, und deine Seele wird ein reicher Bienenstock voll kostbarer Tugenden werden, und Gott wird kommen und sich daran erfreuen. Leb wohl, Jonas. Der Friede sei mit dir.»

Jesus legt seine Hand auf das graue Haupt des Dieners, der gebeugt vor ihm steht, und geht dann auf die Straße hinaus in Richtung der roten Kleefelder, die wie schöne dichte, weiche Teppiche daliegen und auf denen die Bienen gleich Fünkchen summend von Blüte zu Blüte fliegen.

Als sie sich so weit von der Mauer entfernt haben, daß niemand im Garten des Lazarus etwas hören kann, sagt Jesus: «Hast du gehört, was dieser Knecht gesagt hat? Er ist nur ein Landarbeiter. Wenn er ein paar Worte lesen kann, ist es schon viel... Und doch... Seine Worte könnten von meinen Lippen gekommen sein, ohne daß man mich als Meister für töricht halten würde. Er fühlt, daß man wachsam sein muß, damit die Feinde der Seele den Geist nicht zugrunderichten... Deshalb behalte ich dich bei mir, und du haßt mich dafür. Ich will dich vor ihnen schützen und vor dir selbst, und du haßt mich. Ich sage es dir noch einmal: Geh fort, Judas. Geh weit fort. Geh nicht nach Jerusalem hinein. Du bist krank. Es ist keine Lüge zu sagen, daß du zu krank bist, um am Passahfest teilnehmen zu können. Du wirst das nachträgliche Fest feiern. Das Gesetz erlaubt es, das Passahfest später zu feiern, wenn man durch Krankheit oder andere schwerwiegende Gründe verhindert ist, am eigentlichen, feierlichen Passahfest teilzunehmen. Ich werde Lazarus bitten – er ist ein kluger Freund und wird keine Fragen stellen – dich heute noch auf die andere Seite des Jordan zu begleiten.»

«Nein. Ich habe dir schon oft gesagt, daß du mich fortschicken sollst, aber du hast nicht gewollt. Jetzt bin ich es, der nicht will.»

«Du willst nicht? Du willst dich nicht retten? Hast du kein Mitleid mit dir selbst? Auch nicht mit deiner Mutter?»

«Du solltest sagen: "Hast du kein Mitleid mit mir?" Das wäre aufrichtiger.»

«Judas, mein unglücklicher Freund, meinetwegen bitte ich dich nicht. Deinetwegen, deinetwegen bitte ich dich. Schau, wir sind allein. Ich und du, allein. Du weißt, wer ich bin, und ich weiß, wer du bist. Es ist der letzte Augenblick der Gnade, der uns noch gewährt wird, um dein Verderben zu verhindern... Oh, grinse nicht so teuflisch, mein Freund! Verlache mich nicht, als ob ich ein Verrückter wäre, weil ich sage: "dein Verderben" und nicht meines. Für mich ist es kein Verderben. Aber für dich... Wir sind allein, ich und du, und über uns ist Gott... Gott, der dich noch nicht haßt. Gott, der diesen letzten Kampf zwischen Gut und Böse, die um deine Seele ringen, sieht. Über uns ist der Himmel, der uns beobachtet. Dieser Himmel, der sich bald mit Heiligen bevölkern wird. Schon frohlocken sie dort am Ort ihres Wartens, denn sie fühlen, daß die Freude naht... Judas, unter diesen ist auch dein Vater ...»

«Er war ein Sünder. Er ist nicht unter ihnen.»

«Er war ein Sünder, aber er ist nicht verdammt. Daher naht auch für ihn die Freude. Warum willst du ihm in seiner Freude einen Schmerz bereiten?»

«Er fühlt keinen Schmerz mehr. Er ist tot.»

«Nein, er steht nicht über dem Schmerz, dich schuldig zu wissen, dich als... Oh, laß mich dieses schreckliche Wort nicht aussprechen... !»

«Aber ja, ja! Sprich es aus! Ich sage es mir seit Monaten. Ich bin verdammt. Ich weiß es. Und daran ist nichts mehr zu ändern!»

«Alles! Judas, ich weine. Willst du die letzten Tränen des Menschensohnes verschulden ... ? Judas, ich bitte dich ... Bedenke, Freund: Der Himmel erfüllt meine Bitten, und du, und du ... Wirst du mich vergebens bitten lassen? Bedenke, wer bittend vor dir steht: der Messias Israels, der Sohn des Vaters... Judas, höre mich an! Halte ein, solange du noch kannst... !»

«Nein!»

Jesus bedeckt sein Antlitz mit den Händen und läßt sich am Rand der Wiese zu Boden fallen. Er weint lautlos, aber heftig, und seine Schultern werden von Schluchzen geschüttelt...

Judas betrachtet ihn, dort zu seinen Füßen, verzweifelt und weinend und von dem Wunsch erfüllt, ihn zu retten... und empfindet ein plötzliches Mitleid. Er sagt, nun nicht mehr in dem harten Ton eines wahren Satans, in dem er zuvor gesprochen hat: «Ich kann nicht fortgehen... Ich habe mein Wort gegeben...»

Jesus erhebt sein betrübtes Gesicht und unterbricht ihn: «Wem? Wem? Armen Menschen! Und du fürchtest, bei ihnen als ehrlos zu gelten? Hast du dich nicht vor drei Jahren mir übergeben? Und nun denkst du an die Meinung einer Handvoll Übeltäter und nicht an das Gericht Gottes? Oh! Was muß ich tun, Vater, um in ihm den Willen zu erwecken, nicht mehr zu sündigen?» Jesus senkt, von Schmerz überwältigt, das Haupt. Er gleicht schon dem leidenden Jesus in der Todesangst im Gethsemane.

Judas hat Mitleid mit ihm und sagt: «Ich bleibe. Leide nicht so! Ich bleibe... Hilf mir zu bleiben! Verteidige mich!»

«Immer! Immer, wenn du nur willst. Komm. Es gibt keine Schuld, die ich nicht verstehe und nicht verzeihe. Sage: "Ich will", und ich werde dich erlösen...»

Jesus ist aufgestanden und hat Judas umarmt. Aber obwohl die Tränen des Gottmenschen auf das Haupt des Judas fallen, bleibt der Mund des Judas verschlossen. Er sagt nicht das verlangte Wort. Er sagt nicht einmal «Verzeihung», als Jesus in sein Haar flüstert: «Fühlst du nicht, daß ich dich liebe? Ich hätte dich tadeln müssen! Ich küsse dich. Ich hätte das Recht, dir zu sagen: "Bitte deinen Gott um Verzeihung", und ich verlange von dir nur den Willen, daß dir verziehen wird. Du bist so krank! Man kann von einem Schwerkranken nicht viel verlangen. Von allen Sündern, die zu mir gekommen sind, habe ich eine vollkommene Reue verlangt, um verzeihen zu können. Von dir, mein Freund, verlange ich nur den Willen, zu bereuen, und dann... alles übrige werde ich tun.»

Judas schweigt...

Jesus läßt ihn los und sagt nur: «Bleib wenigstens hier bis zum Tag nach dem Sabbat.»

«Ich werde bleiben... Gehen wir zum Haus zurück. Sie werden unsere Abwesenheit bemerken. Vielleicht warten die Frauen auf dich. Sie sind besser als ich, und du darfst sie nicht meinetwegen vernachlässigen.»

«Erinnerst du dich nicht mehr an das Gleichnis vom verlorenen Schaf? Du bist es... Sie, die Frauen, sind die guten Schafe im Schafstall. Sie sind nicht in Gefahr, auch wenn ich den ganzen Tag deine Seele suche, um sie in den Schafstall zurückzuführen...»

«Aber ja! Aber ja! Ich kehre schon in den Schafstall zurück! Ich werde mich in die Bibliothek des Lazarus einschließen und lesen. Ich will nicht gestört werden. Ich will nichts sehen und nichts wissen. So... wirst du mir nicht immer mißtrauen. Und wenn etwas von dem, was geschieht, dem Synedrium zugetragen wird, dann wirst du die Schlangen unter deinen Lieblingen suchen müssen. Leb wohl! Ich werde durch das Haupttor hineingehen. Hab keine Angst, ich werde nicht fliehen. Du kannst kommen und nachsehen, wenn du willst.» Judas wendet ihm den Rücken und geht mit großen Schritten davon.

Jesus, eine hohe Gestalt im weißen Leinengewand, steht am Rand des grünroten Kleefeldes. Er erhebt die Arme zum heiteren Himmel empor, erhebt das tieftraurige Antlitz, erhebt die Seele zu seinem Vater und klagt: «Oh, mein Vater! Kannst du mir vorwerfen, daß ich etwas unterlassen habe, um ihn zu retten? Du weißt, ich kämpfe um seine Seele, nicht um mein Leben, ich kämpfe, um sein Verbrechen zu verhindern... Vater! Mein Vater! Ich flehe dich an! Beschleunige die Stunde der Finsternis, die Stunde des Opfers, denn allzu furchtbar ist es für mich, an der Seite des Freundes leben zu müssen, der nicht erlöst werden will... Ein unsagbarer Schmerz ist es!» Und Jesus setzt sich in den dichten, hohen, schönen Klee, umfaßt seine Knie, legt das Haupt darauf und weint.

(...)

Jesus ist wieder an der Tür der Umfassungsmauer. Er geht hinein, schließt ab und begibt sich zum Haus. Der Diener von zuvor sieht ihn und eilt herbei, um ihm den großen Schlüssel, den er in der Hand hält, abzunehmen.

Er geht weiter und begegnet Lazarus: «Meister, die Frauen sind angekommen. Ich habe sie in den weißen Saal führen lassen, denn in der Bibliothek ist Judas, der liest und leidend ist.»

«Ich weiß es. Ich danke dir im Namen der Frauen. Sind es viele?»

«Johanna, Nike, Elisa und Valeria mit Plautina. Dann noch eine, eine Freundin oder Freigelassene, ich weiß es nicht, die Marcella heißt, eine alte Frau, Anna von Meron, die sagt, daß sie dich kennt, und Annalia mit einem Mädchen namens Sara. Sie sind bei den Jüngerinnen, mit deiner Mutter und meinen Schwestern.»

«Und diese Kinderstimmen?»

«Anna hat die Kinder ihres Sohnes mitgebracht, Johanna die ihren, und Valeria ihre Tochter. Ich habe sie in den Innenhof geführt...»

 

 

 

 

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