JOACHIM UND ANNA LEISTEN DEM HERRN EIN GELÜBDE

Kap.2

Ich sehe das Innere eines Hauses. Dort sitzt eine bejahrte Frau an einem Webstuhl. Nach ihrem sicherlich einst schwarzen, nun aber schon ergrauten Haar und ihrem Gesicht, das noch nicht gerunzelt, aber doch durch den Ernst der Jahre geprägt ist, möchte ich schätzen, daß sie 50-55 Jahre alt ist. Nicht älter.

Die Frau, die ich in einem hellerleuchteten Raum weben sehe, ist schön in ihren typisch hebräischen Gesichtszügen. Die halbgeöffnete Tür läßt den Blick über einen großen Garten schweifen, den ich aufgrund seiner Ausdehnung eher als ein kleines Gut bezeichnen möchte, das sich über ein welliges Gelände dahinzieht. Die tiefen, schwarzen Augen der Frau erinnern mich - ich weiß nicht warum - an jene Johannes des Täufers. Sie sind stolz wie die einer Königin, aber zugleich auch sanft, als wäre über ihr adlerhaftes Aufblitzen ein himmelblauer Schleier gebreitet worden. Sanft und zugleich ein wenig traurig, wie wenn jemand trübsinnig verlorener Dinge gedenkt. Die Gesichtsfarbe ist bräunlich, aber nicht übermäßig. Der Mund, ein klein wenig breit, ist schön geformt und hat einen ernsten, aber nicht harten Zug. Die Nase ist lang und fein, leicht nach unten gebogen. Eine Adlernase, die gut zu diesen Augen paßt. Die Frau ist kräftig, aber nicht dick, gut gebaut und, nach ihrer sitzenden Haltung zu schätzen, ziemlich groß.

Ich glaube, sie webt ein Zelttuch oder einen Teppich. Die vielfarbigen Spulen eilen schnell über den dunkelbraunen Webstuhl, und das fertige Stück Tuch zeigt eine Verschlingung von Verzierungen und Rosetten, in denen grün, gelb, rot und dunkelblau sich verflechten und vermischen wie in einem Mosaik. Die Frau trägt ein ganz einfaches, tiefdunkles Gewand, dessen Violettrot an gewisse Stiefmütterchen erinnert.

Auf ein Pochen an der Tür erhebt sie sich. Sie ist wirklich groß. Vor der Tür steht eine Frau, die fragt: «Anna, willst du mir deinen Krug geben? Ich werde ihn für dich füllen.»

Die Frau hat einen lebhaften Jungen von fünf Jahren bei sich, der sich sofort an das Kleid der genannten Anna schmiegt. Sie liebkost ihn, während sie in einen anderen Raum geht, und kommt mit einem schönen kupfernen Krug zurück, den sie der Frau mit den Worten gibt: «Immer bist du gut zu deiner alten Anna. Gott vergelte es dir an diesem Kind und an den Söhnen, die du hast und haben wirst, du Glückliche!» Anna seufzt. Die Frau schaut sie an und weiß nicht, was sie zu diesem Seufzer sagen soll. Um sie von dem Kummer, der sie offenbar bedrückt, abzulenken, sagt sie: «Ich lasse Alphäus hier, wenn er dir nicht lästig ist; so geht es schneller, und ich kann dir viele Krüge und Schläuche füllen.»

Alphäus freut sich, daß er bleiben darf, und der Grund ist verständlich. Kaum ist die Mutter fort, da nimmt ihn Anna auf ihre Schultern und geht mit ihm in den Garten hinaus. Sie hebt ihn hoch in einem Laubengang, von dem goldgelbe Weintrauben herabhängen, und sagt: «Iß, iß, die sind gut!» Und sie küßt ihn auf das vom Saft der Früchte klebrige Gesichtchen, während das Kind eifrig Beere um Beere verspeist. Dann lacht sie vor Freude und scheint gleich jünger mit den schönen Zähnen, die zum Vorschein kommen, und der Freude, die das Gesicht überstrahlt, als das Kind noch sagt: «Und was gibst du mir jetzt?» und sie dabei mit großen, graublauen Augen anschaut. «Was gibst du mir, wenn ich dir, wenn ich dir gebe... na, rate was!» Und das Kind klatscht in die Hände und sagt lachend: «Küsse, Küsse gebe ich dir, schöne Anna, gute Anna, Mama Anna...» Anna hört sich Mama nennen, drückt mit einem Freudenschrei den Kleinen an sich und sagt: «Oh, mein Schatz! Liebling, Liebling!» Bei jedem "Liebling" küßt sie die rosigen Wangen. Dann gehen sie zu einem Schränkchen, und sie nimmt von einem Teller etwas Honigkuchen. «Ich habe ihn für dich gebacken, du Freude der armen Anna, weil du mich so gern hast. Aber sage mir, wie sehr liebst du mich?» Der Junge erinnert sich an das, was ihn in seinem bisherigen Leben am meisten beeindruckt hat, und sagt: «Wie den Tempel des Herrn.» Anna küßt ihn noch einmal auf die lebhaften Äuglein, auf das rosige Mündchen, und das Kind schmiegt sich an sie wie ein Kätzchen.

Die Mutter kommt und geht mit dem Krug und lacht, ohne dabei etwas zu sagen. Sie überläßt die beiden ihren Zärtlichkeiten.

Da kommt vom Garten her ein alter Mann, etwas kleiner als Anna, mit vollem, schneeweißem Haar. Er hat ein helles Gesicht mit einem viereckig geschnittenen Bart und zwei türkisblauen Augen unter den hellbraunen, fast blonden Augenbrauen. Ein dunkelbraunes Gewand kleidet ihn.

Anna sieht ihn nicht, denn sie steht mit dem Rücken gegen den Ausgang. Er geht auf sie zu und spricht: «Und für mich nichts?» Anna wendet sich um und sagt: «Oh, Joachim, bist du mit deiner Arbeit fertig?»Gleichzeitig schmiegt sich der kleine Alphäus an Joachims Knie und sagt: «Auch für dich, auch für dich.» Joachim beugt sich zu ihm nieder. Das Kind wühlt in dem weißen Bart und gibt ihm einen schallenden Kuß.

Auch Joachim hat ein Geschenk für Alphäus... Er hielt es bisher in der linken Hand hinter dem Rücken; nun aber zeigt er den wunderschönen Apfel, der wie gemalt aussieht, und sagt lachend zum Kind, das erwartungsvoll die Händchen danach ausstreckt: «Warte, ich schneide ihn dir in Stücke. So kannst du ihn nicht essen; er ist ja fast größer als du.» Und mit einem Messerchen, das er sonst zum Beschneiden der Bäume und der Blumensträucher benützt, zerteilt er den Apfel in kleine Scheiben, die er mit großer Sorgfalt in den kleinen Mund steckt, als hätte er es mit einem noch im Nest sitzenden Vögelchen zu tun.

«Sieh doch die Augen, Joachim! Sind sie nicht wie zwei Stückchen des galiläischen Meeres, wenn der Abendwind einen Wolkenschleier über den Himmel webt?» Bei diesen Worten legt Anna eine Hand auf Joachims Schulter und lehnt sich leicht an ihn: eine Haltung, die eine tiefe Gattenliebe bekundet; eine nach so langen Ehejahren ungetrübte Liebe.

Joachim schaut sie liebevoll an und nickt, indem er sagt: «Sehr schön sind sie! Und diese Löckchen? Haben sie nicht die Farbe des Heus, wenn es die Sonne getrocknet hat? Schau: ein Gemisch von Gold und Kupfer.»

«Ach, wenn wir ein Kind gehabt hätten: so hätte ich es mir gewünscht; mit diesen Augen und diesen Haaren...» Anna hat sich niedergebeugt, ja niedergekniet, und küßt mit einem schweren Seufzer die beiden großen blaugrauen Augen.

Auch Joachim seufzt. Aber er will sie trösten, legt ihr eine Hand auf die krausen, weißen Haare und sagt: «Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben. Gott ist allmächtig. Solange man lebt, kann das Wunder jederzeit stattfinden; besonders wenn man ihn liebt und sich gegenseitig liebt.»Joachim betont diese letzten Worte.

Anna aber schweigt niedergeschlagen und hat das Haupt geneigt, um die beiden Tränen zu verbergen, die über ihre Wangen herunterrollen; nur der kleine Alphäus bemerkt sie und ist erstaunt und betrübt, daß seine große Freundin weint wie er selbst manchmal. Er hebt ein Händchen und wischt die Tränen ab. «Weine nicht, Anna!» tröstet sie Joachim. «Wir sind auch so glücklich. Ich wenigstens bin es, weil ich dich besitze.»

«Auch ich bin glücklich, weil ich dich habe. Aber ich habe dir keinen Sohn geschenkt... Vielleicht habe ich dem Herrn in etwas mißfallen, da er mir den Schoß verschlossen hat ...»

«Oh, meine Gattin! Worin solltest du ihm mißfallen haben, du Heilige? Höre! Gehen wir für dieses unser Anliegen noch einmal zum Tempel! Nicht nur wegen des Laubhüttenfestes (Ex 23.14-17). Beten wir lange!... Vielleicht ergeht es dir wie Sara... wie Anna, der Frau des Elkana. Lange haben sie gewartet und haben geglaubt, sie seien verworfen, weil sie kinderlos blieben. Statt dessen reifte für sie im Himmel Gottes ein heiliges Kind (1 Kön 1 und 2,11). Lächle, meine Gattin! Dein Weinen schmerzt mich mehr als die Kinderlosigkeit... Wir werden Alphäus mit uns nehmen und ihn beten lassen; ihn, der unschuldig ist... und Gott wird sein Gebet und unser Gebet annehmen und erhören.»

«Ja, machen wir dem Herrn ein Gelübde. Ihm soll das Kind gehören, wenn er es uns gibt... Ach, könnte ich mich doch "Mama" rufen hören!»

Da sagt Alphäus, der erstaunte und unschuldige Zuschauer: «Ich nenne dich doch so!»

«Ja, meine liebe Freude...»

Hier endet die Vision.

 

 

 

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