Jesus heilt ein Kind auf Bitte des römischen Soldaten Alexander

aus Kap.154: November, 1. Lehrjahr

Das Innere des Tempels. Jesus ist mit den Seinen ganz nahe beim eigentlichen Tempel, dem Allerheiligsten, in das nur Priester eintreten dürfen. Es ist ein wunderschöner Hof, zu dem man durch eine Vorhalle gelangt; von da aus geht es über einen noch schöneren zur oberen Terrasse, auf der der Würfel des Heiligtums steht.

Sie scheinen alle im Gebet versunken. Auch viele andere Israeliten, alles Männer, sind hier, und jeder betet für sich. Der Abend sinkt am Ende dieses drückenden Novembertages ganz plötzlich nieder.

Ein Stimmengewirr wird hörbar. Eine laute, aufgeregte Männerstimme, die lateinisch flucht, vermischt sich mit hebräischen Rufen und Geschrei. Es hört sich an wie Gezänk, und eine weibliche Stimme schreit: «Oh, laßt ihn doch durchgehen. Er sagt, daß er ihn heilen kann.»

Die Andacht im prächtigen Hof ist gestört. Viele Köpfe drehen sich in die Richtung, aus der die Stimmen kommen. Auch Judas Iskariot wendet sich um. Groß wie er ist, kann er sehen und berichtet: «Ein römischer Soldat kämpft, um hereinzukommen. Er schändet den heiligen Ort. Schrecklich!» Viele unterstützen ihn.

«Laßt mich durch, ihr jüdischen Hunde! Jesus ist hier. Ich weiß es. Ich will zu ihm. Mit euren dummen Steinen kann ich nichts anfangen. Das Kind stirbt; er kann es retten. Weg, ihr scheinheiligen Hyänen!»

Als Jesus verstanden hat, daß man zu ihm will, geht er sofort zur Vorhalle, in der die Bewegung und der Lärm entstanden sind. Er ruft: «Ruhe und Ehrfurcht an diesem Orte und zur Stunde des Opfers!»

«Oh, Jesus! Sei gegrüßt! Ich bin Alexander. Macht Platz, ihr Hunde!»

Jesus sagt ruhig und langsam: «Ja, macht Platz! Ich werde den Heiden anderswohin führen; er weiß nicht, was dieser Ort für uns bedeutet.»

Der Kreis löst sich auf; Jesus geht zum Soldaten hin, dessen Panzerhemd blutbefleckt ist. «Bist du verwundet? Komm, hier können wir nicht bleiben», und er führt ihn durch verschiedene Höfe hinaus.

«Ich bin nicht verwundet, aber ein Kind... Mein Pferd ist mir bei der Burg Antonia wild geworden und hat es mit den Hufen am Kopf getroffen. Prokulus hat gesagt: "Nichts mehr zu machen!" Ich habe keine Schuld, doch durch mich ist es geschehen, und die Mutter ist verzweifelt. Ich habe gesehen, wie du vorbeigekommen bist und habe mir gesagt: "Prokulus nicht, er aber schon." Und ich habe gesagt: "Frau, komm! Jesus wird es heilen." Sie haben mich aufgehalten, diese Wahnsinnigen, und nun ist das Kind vielleicht schon tot», antwortet der Soldat, den ich schon am Fischtor gesehen habe.

«Laß uns gehen!»

Jesus macht sich auf den Weg, gefolgt von den Seinen und einem ganzen Schwarm von Leuten.

Auf den Stufen, die den Säulengang abgrenzen, lehnt an einer Säule eine untröstliche Frau, die ihr sterbendes Kind beweint. Der Junge ist schon ganz steif, mit violetten, halbgeöffneten Lippen und dem charakteristischen Röcheln eines Hirnverletzten. Eine Binde ist um den Kopf gewickelt; sie ist an der Stirn und im Nacken mit Blut getränkt.

«Sein Schädel ist vorne und hinten offen. Man kann die Hirnmasse sehen. Die Knochen sind in diesem Alter noch weich, und das Pferd war groß und frisch beschlagen ...» erklärt Alexander.

Jesus ist bei der Frau angelangt, die nicht mehr sprechen kann vor Schmerz. Jesus legt ihr die Hand aufs Haupt. «Weine nicht, Frau!» sagt er mit der ganzen Zartheit, deren er fähig ist, mit unendlicher Güte. «Habe Vertrauen! Gib mir dein Kind!»

Die Frau betrachtet ihn betroffen. Die Leute beschuldigen die Römer und klagen über das sterbende Kind und seine Mutter. Alexander ist voll des Zornes über die ungerechte Anklage, aber auch des Mitleids und der Hoffnung.

Jesus setzt sich zu der Frau, da er sieht, daß sie regungslos ist. Er nimmt das Köpfchen des Kindes in seine langen Hände, beugt sich über das Gesichtlein und haucht auf den kleinen, röchelnden Mund... Nur ein Augenblick, dann erscheint ein Lächeln auf seinem Gesicht, das durch die nach vorn gefallenen Haare etwas verdeckt ist. Es richtet sich auf, öffnet die Äuglein und versucht, sich aufzusetzen. Die Mutter fürchtet, daß es sich um das letzte Aufbäumen vor dem Tode handle, und drückt es aufschreiend ans Herz.

«Laß es los, Frau! Kind, komm zu mir!» sagt Jesus, der immer noch an der Seite der Frau sitzt, und streckt dem Kinde lächelnd die Arme entgegen. Das Kind wirft sich sicher in seine Arme und weint, nicht aus Schmerz, sondern aus Angst, in der Erinnerung an das Pferd.

«Das Pferd ist nicht mehr da», beruhigt es Jesus. «Alles ist vorbei. Tut es dir nicht mehr weh?»

«Nein. Aber ich habe Angst, ich habe Angst!»

«Du siehst, Frau. Es ist nur die Angst. Das geht vorbei. Bringt mir Wasser. Das Blut und die Binde erschrecken ihn. Gib mir einen von deinen Äpfeln, Johannes! Nimm ihn, Kleiner! Iß, er ist gut!»

Sie bringen Wasser. Es ist Alexander, der es in seinem Helm trägt. Jesus will die Binde abnehmen. Alexander und die Mutter sagen: «Nein! Es wird wieder bluten, denn der Kopf hat Wunden ...»

Jesus lächelt und löst die Binde. Eins, zwei, drei... acht Runden. Er nimmt die blutigen Teile ab. Von der Mitte der Stirn bis zum Nacken ist eine noch weiche Blutkruste in den Härchen des Kindes. Jesus netzt ein Tuch und wäscht ab.

«Aber darunter ist die Wunde! Wenn du das geronnene Blut wegnimmst, beginnt die Blutung wieder!»

Die Mutter hält die Hände vor die Augen, um nichts sehen zu müssen. Jesus wäscht und wäscht. Die Blutkruste löst sich. Man sieht die gereinigten Härchen. Sie sind feucht, doch darunter ist keine Wunde mehr. Auch die Stirne ist heil. Es ist nur ein kleines rotes Mal dort, wo sich die Narbe gebildet hat.

Die Leute schreien vor Verblüffung. Die Frau wagt es, aufzublicken; als sie sieht und versteht, kann sie sich nicht mehr zurückhalten. Sie hängt sich an Jesus, umarmt ihn zusammen mit dem Kinde und weint. Jesus erträgt diesen Dankeserguß und Tränenstrom.

«Ich danke dir, Jesus», sagt Alexander. «Ich hätte gelitten, wenn dieses unschuldige Kind gestorben wäre.»

«Du warst gut und hattest Vertrauen. Leb wohl, Alexander! Geh zu deinem Dienst!»

Alexander geht bereits, als die Beamten des Tempels und die Priester in Scharen herankommen. «Der Hohepriester fordert dich und den heidnischen Schänder durch uns auf, den Tempel zu verlassen! Und zwar sofort! Ihr habt die Zeremonie des Rauchopfers gestört. Dieser hier ist in den Ort eingedrungen, der Israel vorbehalten ist. Es ist nicht das erstemal, daß durch deine Schuld der Tempel in Aufruhr ist. Der Hohepriester und mit ihm die Ältesten vom Dienst verbieten dir, den Fuß hierher zu setzen. Geh und bleib bei deinen Heiden!»

«Wir sind doch keine Hunde. Er (Jesus) sagt: "Es gibt nur einen Gott, den Schöpfer der Juden und der Römer!" Wenn dieses das Haus Gottes ist und ich eines seiner Geschöpfe bin, dann kann auch ich eintreten», entgegnet Alexander auf die verächtliche Bemerkung des Priesters, er sei ein Heide.

«Schweige, Alexander! Ich rede», unterbricht ihn Jesus, der, nachdem er das Kind geküßt und es seiner Mutter zurückgegeben hat, aufsteht. Er sagt zur Gruppe, die ihn wegjagen will: «Niemand kann einem Gläubigen, einem wahren Israeliten, den man nicht als Sünder anklagen kann, verbieten, im Heiligtum zu beten.» (...)

Vom ferneren Schicksal Alexanders erfahren wir in Kap.244: Jesus fragt einen römischen Soldaten nach Alexander und erfährt, daß er kurz nach der Heilung des Kindes nach Antiochia versetzt wurde, um die Juden zu beruhigen, die den Soldaten beschuldigten, mit Jesus gesprochen zu haben. In Kap.633 sagt ein Soldat nach der Geißelung Jesu zu einem Kameraden die ergreifenden Worte: "Titus, sag, war dieser Mensch wirklich die Liebe des Alexander? Dann wollen wir ihn benachrichtigen, damit er Trauer tragen kann."

 

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