Hatte Maria mit Joseph ehelichen Verkehr?

1.      Als stärkstes Argument gegen die lebenslange Jungfräulichkeit Marias wird Matthäus 1,18-24 angeführt.

18           Mit der Geburt Jesu Christi war es so: Maria, seine Mutter, war mit Josef verlobt; noch bevor sie zusammengekommen waren, zeigte sich, daß sie ein Kind erwartete - durch das Wirken des Heiligen Geistes.

19           Josef, ihr Mann, der gerecht war und sie nicht bloßstellen wollte, beschloß, sich in aller Stille von ihr zu trennen.

20           Während er noch darüber nachdachte, erschien ihm ein Engel des Herrn im Traum und sagte: Josef, Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria als deine Frau zu dir zu nehmen; denn das Kind, das sie erwartet, ist vom Heiligen Geist.

21           Sie wird einen Sohn gebären; ihm sollst du den Namen Jesus geben; denn er wird sein Volk von seinen Sünden erlösen.

22           Dies alles ist geschehen, damit sich erfüllte, was der Herr durch den Propheten gesagt hat:

23           Seht, die Jungfrau wird ein Kind empfangen, einen Sohn wird sie gebären, und man wird ihm den Namen Immanuel geben, das heißt übersetzt: Gott ist mit uns.

24           Als Josef erwachte, tat er, was der Engel des Herrn ihm befohlen hatte, und nahm seine Frau zu sich.

25           Er erkannte sie aber nicht, bis sie ihren Sohn gebar. Und er gab ihm den Namen Jesus.

Die Konjunktion bis wird üblicherweise so verstanden, daß eine Tätigkeit oder ein Zustand bis zu einem bestimmten Zeitpunkt anhält und dann beendet ist. Ist das Verb, wie in diesem Fall, mit einer Negation verbunden, nimmt man an, daß die verneinte Tätigkeit nach ihrer Beendigung in die Bejahung übergeht. Nun wird von den Verteidigern der Jungfräulichkeit Marias geltend gemacht, daß die Aussage eines bis-Satzes keine Folgerung über ihre Beendigung hinaus beinhaltet. Tatsächlich kann hierfür ein Parallelbeispiel im Johannesevangelium (9,13-19) angeführt werden: Nachdem Jesus einen Blindgeborenen geheilt hat, erzählt dieser den Pharisäern, wie er sehen geworden sei. Dann heißt es weiter in Vers 18-19:

Die Juden aber wollten nicht glauben, daß er blind gewesen und sehend geworden war, BIS sie die Eltern des Geheilten riefen und sie fragten: Ist das euer Sohn, von dem ihr behauptet, daß er blind geboren wurde? Wie kommt es, daß er jetzt sehen kann?

Auch die neue (katholische) Einheitsübersetzung, die sich rühmt, möglichst textnah zu übersetzen, übernimmt nicht die wörtliche Wiedergabe, sondern bildet einen neuen Satz: Daher riefen sie die Eltern des Geheilten ...

2.      Wenn wir einmal annehmen, der Evangelist Matthäus wollte mit seiner Aussage "erkannte nicht" nicht auf eine spätere Aufnahme des ehelichen Verkehrs verweisen, so stellt sich doch die Frage, warum er sie überhaupt gemacht hat. Diese Frage ist nicht zwingend zu beantworten, daher müssen wir uns mit Plausibilitätsgründen behelfen. Ich führe zwei an:

Der erste Grund ist stilistisch. Nachdem Josef seine Frau zu sich genommen hat, folgt chronologisch die Geburt Jesu. Unverbunden lauten daher die Aussagen: Josef nahm seine Frau zu sich. Maria gebar ihren Sohn. Nun braucht Matthäus eine passende Satzverknüpfung. Er hätte analog zu Lukas 2,6 eine Als-Verknüpfung verwenden können:

Als für Maria die Zeit ihrer Niederkunft kam, gebar sie ihren Sohn.

Matthäus aber vermeidet einen Subjektwechsel. Vielleicht fiel ihm diese Möglichkeit nicht ein.

Im zweiten Grund verbinden sich zwei Aspekte: Was wußte der Evangelist über die Umstände, die zur Verlobung und Eheschließung von Maria und Josef führten? Nach dem (apokryphen) Protoevangelium des Jakobus befand sich Maria bis zu ihrem 13. Lebensjahr im Tempel zu Jerusalem als Tempeljungfrau. Danach sollte sie, wie es Brauch war, verheiratet werden. Durch ein Wunderzeichen wurde ihr Joseph zugesprochen. Weitere Einzelheiten hat Maria VALTORTA in ihrem in Visionen vermittelten Werk "Der Gottmensch" aufgezeichnet. Danach hatte Maria lebenslange Jungfräulichkeit gelobt, und auch Joseph wollte unverheiratet bleiben. Beide stammten aus Nazareth, Joseph kannte Maria, bevor sie nach Jerusalem zum Tempel geschickt wurde.

Matthäus kannte diese Vorgeschichte entweder nicht oder nur unvollständig. Er orientiert sich an den zwei Aussagen, die Joseph im Traum erhalten hat: "Das Kind ist vom Heiligen Geist" und "Nimm Maria als Frau zu dir". Der Evangelist möchte Josephs Gehorsam hervorheben: Als ihr Ehemann hat er das Recht zum Vollzug der Ehe, aber er achtet das Vorrecht des Heiligen Geistes. Denn Maria, die ihr Ja zum Wirken des Heiligen Geistes gesprochen hat, ist damit ihr Leben lang an den Heiligen Geist gebunden wie an einen Ehemann. Eine geschlechtliche Beziehung zwischen Maria und Joseph wäre einem Ehebruch gleichgekommen.

Daß Maria sich ganz Gott geweiht hatte und ehelos bleiben wollte, läßt sich aus dem Lukasevangelium schließen, als der Engel Gabriel ihr die Empfängnis eines Sohnes ankündigte und sie fragte: "Wie soll das geschehen, da ich keinen Mann erkenne" (1,34)? Da sie verlobt war, muß sie mit Joseph über ihre Absicht, ehelos zu bleiben, schon gesprochen haben, und Joseph muß damit einverstanden gewesen sein. Möglicherweise ist die Evangelienstelle "Und er erkannte sie nicht" von der Verkündigungsszene angeregt worden.

Als Fazit kann also festgehalten werden: Der bis-Satz dient formal erstens der Verknüpfung zum vorhergehenden Text und verbindet zweitens zwei zeitliche und in sich selbständige Handlungen.

3.      Man kann über die Matthäusstelle kein Urteil fällen, ohne sich zu vergewissern, was der Evangelist selbst geglaubt hat. Die Antwort findet man im 2. Kapitel, als Joseph von einem Engel im Traum aufgefordert wird, vor Herodes zu fliehen. Der Engel sagte zu ihm: "Nimm das Kind und seine MUTTER und flieh nach Ägypten" (2,13). Er sagte also nicht: "Nimm das Kind und deine FRAU". Im folgenden Berichtstil wiederholt Matthäus genau die Aufforderung des Engels: "Da stand Josef auf und floh in der Nacht mit dem Kind und dessen Mutter nach Ägypten" (2,14). Mit denselben Worten wird Joseph nach dem Tod der Herodes aufgefordert, wieder nach Israel zurückzukehren, und wiederum werden sie im Bericht wiederholt (2,20-21).

Hätte Matthäus also besser daran getan, die Aussage "Und er erkannte sie nicht" wegzulassen? Ich meine, ja. Matthäus hätte damit viel Verwirrung und viele Auseinandersetzungen vermeiden können.

 

 

Erstellt: September 2019

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