VERGIL: 8. Ekloge

Text und Übersetzung

Verszahl der 10 Eklogen

 

1.     Pastorum musam Damonis et Alphesiboei,

Zweier Hirten Muse, des Damon und Alphesiboeus

 

2.     immemor herbarum quos est mirata iuvenca

‑ als sie stritten, vergaß das Rind voller Staunen der Weide,

 

3.     certantis, quorum stupefactae carmine lynces,

ihr Gesang schlug zaubernd in Bann die lauschenden Luchse

 

4.     et mutata suos requierunt flumina cursus,

und den natürlichen Lauf verändernd standen die Ströme –

 

5.     Damonis musam dicemus et Alphesiboei.

Damons Muse feiern wir nun und des Alphesiboeus.

 

6.     Tu mihi seu magni superas iam saxa Timavi,

Du aber, ob du schon am Geklüft des großen Timavus

 

7.     sive oram Illyrici legis aequoris, en erit umquam

glücklich vorbei, ob du streifst Illyricums Küste ‑ ach, kommt wohl

 

8.     ille dies, mihi cum liceat tua dicere facta?

je der Tag, da mir's vergönnt, deine Taten zu feiern,

 

9.     En erit, ut liceat totum mihi ferre per orbem

ist mir's je wohl vergönnt, dem ganzen Erdkreis zu sagen,

 

10.   sola Sophocleo tua carmina digna cothurno?

nur deine Muse sei würdig an Rang des Sophokles Dichtung?

 

11.   A te principium; tibi desinam: accipe iussis

Anfang bist du und Ende dem Sang; so nimm diese Lieder,

 

12.   carmina coepta tuis, atque hanc sine tempora circum

deinem Geheiß entsprungen, und laß dir rings um die Schläfen

 

13.   inter victricis hederam tibi serpere lauros.

zwischen des Siegers Lorbeerkranz diesen Efeu sich ranken.

 

A. Rede des Damon

 

14.   Frigida vix caelo noctis decesserat umbra,

Schauernder Schatten der Nacht war kaum vom Himmel gewichen,

 

15.   cum ros in tenera pecori gratissimus herba,

Tau perlt silbern auf zartem Gras, ein Labsal der Herde;

 

16.   incumbens tereti Damon sic coepit olivae:

da begann Damon, gelehnt auf glatten Olivenstab, also:

 

I.

 

17.   'Nascere, praeque diem veniens age, Lucifer, almum,

"Lichtstern, strahle herauf, des holden Tages Geleiter!

 

18.   coniugis indigno Nysae deceptus amore

Ich aber, schnöde betrogen um Gattenliebe zu Nysa,

 

19.   dum queror, et divos, quamquam nil testibus illis

klage und rufe zu Göttern, wiewohl sie als Zeugen nicht halfen,

 

20.   profeci, extrema moriens tamen adloquor hora.

einmal wenigstens noch empor in der Stunde des Todes.

 

21.   Incipe Maenalios mecum, mea tibia, versus.

Lieder vom Maenalus laß mit mir, meine Flöte, ertönen.

 

22.   Maenalus argutumque nemus pinosque loquentis

Immer umsäuselt der Hain den Maenalus, flüstern die Fichten,

 

23.   semper habet; semper pastorum ille audit amores

immer hört er den Liebesgesang der Hirten und hört auch

 

24.   Panaque, qui primus calamos non passus inertis.

Pan, der als erster das Rohr nicht stumm und träge gelassen.

 

25.   Incipe Maenalios mecum, mea tibia, versus.

Lieder vom Maenalus laß mit mir, meine Flöte, ertönen.

 

26.   Mopso Nysa datur: quid non speremus amantes?

Nysa dem Mopsus! Was müssen wir Liebenden da nicht erwarten?

 

27.   Iungentur iam grypes equis, aevoque sequenti

Nunmehr paart sich dem Rosse der Greif, in künftigen Zeiten

 

28.   cum canibus timidi veniet ad pocula dammae.

kommen die furchtsamen Hirsche mit Hunden gemeinsam zur Tränke.

 

29.   Incipe Maenalios mecum, mea tibia, versus.

Lieder vom Maenalus laß mit mir, meine Flöte, ertönen.

 

30.   Mopse, novas incide faces: tibi ducitur uxor.

Mopsus, schneide Fackeln dir frisch! Dir naht ja die Gattin!

 

31.   sparge, marite, nuces: tibi deserit Hesperus Oetam.

Streu doch, Ehemann, Nüsse! Für dich sinkt nieder der Abend!

 

32.   Incipe Maenalios mecum, mea tibia, versus.

Lieder vom Maenalus laß mit mir, meine Flöte, ertönen.

 

II.

 

33.   O digno coniuncta viro, dum despicis omnis,

Du, würdigem Manne vermählt, da du alle verachtest,

 

34.   dumque tibi est odio mea fistula dumque capellae

da verhaßt meine Flöte dir ist, verhaßt meine Ziegen

 

35.   hirsutumque supercilium promissaque barba,

und meine Braue zu struppig für dich und das wuchernde Barthaar,

 

36.   nec curare deum credis mortalia quemquam!

und du glaubst, es achte kein Gott auf sterbliches Dasein?

 

37.   Incipe Maenalios mecum, mea tibia, versus.

Lieder vom Maenalus laß mit mir, meine Flöte, ertönen.

 

38.   Saepibus in nostris parvam te roscida mala

Tauige Äpfel sah ich mit deiner Mutter in unserm

 

39.   (dux ego vester eram) vidi cum matre legentem;

Garten dich pflücken, du warest noch klein, ich war euer Führer.

 

40.   alter ab undecimo tum me iam acceperat annus;

Eben war ich vom elften Jahr ins nächste gekommen,

 

41.   iam fragilis poteram a terra contingere ramos:

konnte vom Boden aus schon die schwankenden Zweige erreichen.

 

42.   ut vidi, ut perii, ut me malus abstulit error!

Wie ich dich sah, wie verging ich! Wie schlug mich heilloser Irrwahn!

 

43.   Incipe Maenalios mecum, mea tibia, versus.

Lieder vom Maenalus laß mit mir, meine Flöte, ertönen.

 

44.   Nunc scio quid sit Amor: duris in cotibus illum

Jetzt begreif' ich, was Amor ist! Auf härtesten Klippen

 

45.   aut Tmaros aut Rhodope aut extremi Garamantes

zeugen wohl Rhodope, Tmaros und fern im Süd Garamanten

 

46.   nec generis nostri puerum nec sanguinis edunt.

solch ein Kind, nicht unserer Art, nicht unseren Blutes.

 

47.   Incipe Maenalios mecum, mea tibia, versus.

Lieder vom Maenalus laß mit mir, meine Flöte, ertönen.

 

III.

 

48.   Saevus Amor docuit natorum sanguine matrem

Mit dem Blute der Kinder die Hand zu beflecken, hat Amors

 

49.   commaculare manus; crudelis tu quoque, mater:

Wut eine Mutter gelehrt; doch du auch, warst grausam

 

50.   crudelis mater magis, an puer improbus ille?

War die Mutter wohl grausamer, war's der schändliche Bube?

 

51.   Improbus ille puer; crudelis tu quoque, mater.

Schändlich ist er, der Bube; doch du auch, Mutter, warst grausam.

 

52.   Incipe Maenalios mecum, mea tibia, versus.

Lieder vom Maenalus laß mit mir, meine Flöte, ertönen.

 

53.   Nunc et ovis ultro fugiat lupus; aurea durae

Jetzt soll fliehen vor Schafen der Wolf, jetzt trage der harte

 

54.   mala ferant quercus, narcisso floreat alnus,

Eichbaum goldene Apfel, Narzissenblüten die Erle,

 

55.   pinguia corticibus sudent electra myricae,

aus Tamariskenrinde soll goldig quellen der Bernstein,

 

56.   certent et cycnis ululae, sit Tityrus Orpheus,

streiten soll gegen Schwäne der Kauz, sei Tityrus Orpheus,

 

57.   Orpheus in silvis, inter delphinas Arion.

Orpheus in Wäldern und sei Arion unter Delphinen.

 

58.   Incipe Maenalios mecum, mea tibia, versus.

Lieder vom Maenalus laß mit mir, meine Flöte, ertönen.

 

59.   Omnia vel medium fiat mare. Vivite, silvae:

Alles zerfließe und werde zum Meer! Lebt wohl denn, ihr Wälder!

 

60.   praeceps aerii specula de montis in undas

Jäh vom Gipfel des ragenden Bergs hinab in die Fluten

 

61.   deferar; extremum hoc munus morientis habeto.

stürz ich mich nieder, beschenke sie so noch einmal im Tode.

 

62.   Desine Maenalios, iam desine, tibia, versus.'

Laß des Maenalus Lieder, o Flöte, laß sie verklingen."

 

 

B. Rede des Alphesiboeus

 

I.

63.   Haec Damon. Vos, quae responderit Alphesiboeus,

So sang Damon; doch ihr, was Alphesiboeus entgegnet,

64.   ducite, Pierides: non omnia possumus omnes.

sagt es mir, Musen! Nicht kann uns allen alles gelingen.

65.   'Effer aquam, et molli cinge haec altaria vitta,

Wasser bringe, umschling den Altar mit wollener Binde,

66.   verbenasque adole pinguis et masculatura,

heiliges Grün voller Saft und würzigen Weihrauch entzünde,

67.   coniugis ut magicis sanos avertere sacris

daß ich durch magische Opfer die nüchternen Sinne des Gatten

68.   experiar sensus: nihil hic nisi carmina desunt.

wirksam berücke; hier fehlen uns nur noch bannende Sprüche.

69.   Ducite ab urbe domum, mea carmina, ducite Daphnim.

Holt aus der Stadt mir heim, meine Bannsprüche, holet mir Daphnis.

70.   Carmina vel caelo possunt deducere lunam;

Bannsprüche können Luna sogar herholen vom Himmel,

71.   carminibus Circe socios mutavit Ulixi;

Circes Bannspruch verwandelte einst des Odysseus Gefährten,

72.   frigidus in pratis cantando rumpitur anguis.

Bannspruch bringt zum Bersten im Gras die schaurige Schlange.

73.   Ducite ab urbe domum, mea carmina, ducite Daphnim.

Holt aus der Stadt mir heim, meine Bannsprüche, holet mir Daphnis.

74.   Terna tibi haec primum triplici diversa colore

Je drei Fäden zunächst von dreifach verschiedener Farbe

75.   licia circumdo, terque haec altaria circum

schling ich dir um und führe dein Bild dreimal hier im Kreise

76.   effigiem duco: numero deus impare gaudet.

um den Altar. Es freut sich der Gott an der ungraden Dreizahl.

77.   Ducite ab urbe domum, mea carmina, ducite Daphnim.

Holt aus der Stadt mir heim, meine Bannsprüche, holet mir Daphnis.

78.   necte tribus nodis ternos, Amarylli, colores;

Durch drei Knoten knüpfe der Farbe drei, Amaryllis,

79.   necte, Amarylli, modo et 'Veneris' dic 'vincula necto'.

knüpf nur und sprich, Amaryllis: "Ich knüpfe die Fesseln der Venus."

80.   Ducite ab urbe domum, mea carmina, ducite Daphnim.

Holt aus der Stadt mir heim, meine Bannsprüche, holet mir Daphnis.

II.

81.   Limus ut hic durescit, et haec ut cera liquescit

Wie dieser Schlamm hier hart wird und wie dieses Wachs ganz zart wird

82.   uno eodemque igni, sic nostro Daphnis amore.

hier in gleicher Glut, so Daphnis in unserer Liebe.

83.   Sparge molam et fragilis incende bitumine lauros.

Opferschrot streue, entzünde mit Harz den knisternden Lorbeer!

84.   Daphnis me malus urit; ego hanc in Daphnide laurum.

Bös brennt Daphnis mein Herz, ich brenn' diesen Lorbeer auf Daphnis,

85.   Ducite ab urbe domum, mea carmina, ducite Daphnim.

Holt aus der Stadt mir heim, meine Bannsprüche, holet mir Daphnis.

86.   Talis amor Daphnim, qualis cum fessa iuvencum

So sei Daphnis von Liebe gebannt, wie die Färse, wenn matt vom

87.   per nemora atque altos quaerendo bucula lucos,

Suchen nach ihrem Stier durch Wälder und ragende Haine

88.   propter aquae rivum, viridi procumbit in ulva

nah am rieselnden Bach im grünen Schilfe sie hinsinkt

89.   perdita, nec serae meminit decedere nocti,

todbetrübt und vergißt, der Nacht, der späten, zu weichen.

90.   talis amor teneat, nec sit mihi cura mederi.

So soll Liebe ihn fesseln, und mich soll's wenig bekümmern.

91.   Ducite ab urbe domum, mea carmina, ducite Daphnim.

Holt aus der Stadt mir heim, meine Bannsprüche, holet mir Daphnis.

92.   Has olim exuvias mihi perfidus ille reliquit,

Einst ließ diese Gewänder der Treulose mir für sich selbst als

93.   pignora cara sui; quae nunc ego limine in ipso,

liebe Pfänder zurück; jetzt grabe ich hier an der Schwelle,

94.   terra, tibi mando: debent haec pignora Daphnim.

Erde, die Kleider dir ein; diese Pfänder schulden mir Daphnis.

95.   Ducite ab urbe domum, mea carmina, ducite Daphnim.

Holt aus der Stadt mir heim, meine Bannsprüche, holet mir Daphnis.

III.

96.   Has herbas atque haec Ponto mihi lecta venena

Diese giftigen Kräuter hier, gesammelt in Pontus,

97.   ipse dedit Moeris (nascuntur pluruma Ponto);

schenkte mir Moeris selbst, sie wachsen reichlich in Pontus.

98.   his ego saepe lupum fieri et se condere silvis

Oft genug sah ich, wie Moeris durch sie zum Wolf sich verwandelt

99.   Moerim, saepe animas imis excire sepulcris,

und in Wäldern verbarg, wie Geister tief aus den Gräbern

100.  atque satas alio vidi traducere messis.

oft er beschwor, wie Saatfrucht auf andere Felder er hexte.

101.  Ducite ab urbe domum, mea carmina, ducite Daphnim.

Holt aus der Stadt mir heim, meine Bannsprüche, holet mir Daphnis.

102.  Fer cineres, Amarylli, foras, rivoque fluenti

Trag, Amaryllis, die Asche hinaus und über den Kopf hin

103.  transque caput iace, nec respexeris. His ego Daphnim

wirf sie ins Strömen des Baches und schau nicht rückwärts; mit diesem

104.  adgrediar; nihil ille deos, nil carmina curat.

greife ich Daphnis nun an, ihn kümmert kein Gott, kein Bannspruch.

105.  Ducite ab urbe domum, mea carmina, ducite Daphnim.

Holt aus der Stadt mir heim, meine Bannsprüche, holet mir Daphnis.

106.  Aspice: corripuit tremulis altaria flammis

Sieh doch, mit zitternden Flammen ergriff den Altar von selber,

107.  sponte sua, dum ferre moror, cinis ipse. Bonum sit!

die ich zu tragen nach zaudre, die Asche! Sei es ein Gutes!

108.  Nescio quid certe est, et Hylax in limine latrat.

Etwas bedeutet es sicher. Auch Hylax bellt an der Schwelle.

109.  Credimus? an qui amant ipsi sibi somnia fingunt?

Glauben wir? Oder erdichten sich Liebende selbst ihren Wunschtraum?

110.  Parcite, ab urbe venit, iam parcite, carmina, Daphnis.'

Halt! Er kommt aus derStadt! Nun halt, ihr Sprüche! ‑ MeinDaphnis!

Übersetzung: Maria und Johannes Götte. Artemis

Der als irregulär empfundene Einschub des Kehrverses ist für Zeile 77 in den Hauptcodices, für Zeile 29 in einigen weniger bedeutenden Codices bezeugt. Die wissenschaftlichen Ausgaben haben sich auf 109 Verse geeinigt. Die im lateinischen Text gelb unterlegten Parallelformen zeigen jedoch, daß Vergil zwei Gruppen aus je 3 Versen (terna!) eine Mittelachse geben wollte (, weswegen keine andere Schlußfolgerung denkbar ist als die der vollständigen Parallelität der Verszahl in beiden Reden und der gesamten Verszahl 110.

Der Kehrvers ist als Teil einer strophischen Einheit und als deren letzte Zeile anzusehen.

Über die Verszahlen der übrigen Eklogen herrscht Einigkeit, so daß die Gesamtzahl der Verse meistens mit 829 angegeben wird. Die farbigen Unterlegungen in der folgenden Tabelle zeigen die Zusammengehörigkeit der Verse an:

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

55

83

73

111

63

90

86

70

110

67

77

830

Man kann 3 Gruppen von Eklogen in der Folge 4-3-3 unterscheiden, deren Verszahl zusammen oder einzeln durch 10 teilbar sind. Die Verszahl von vier Eklogen sind einander konzentrisch zugeordnet (von außen nach innen 160+140). Drei Eklogen ergeben in der Summe der Einerstellen 1+3+6 die Zahl 10, drei sind je für sich durch 10 teilbar. Die Summen der drei Gruppen sind 300+270+260. Die Summe ihrer Faktorenwerte (FW) (17+16) + 22 entspricht der Summe der Zahlen 1-10 = 55.

Für weitere Informationen verweise ich auf meine 2009 durchgeführte Analyse von Vergils Zahlenkonstruktion der 830 Verse.

Erstellt: November 2007

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