Kap.46
Ich sehe eine
Landstraße. Eine große Menge belebt sie. Esel, beladen mit Hausrat und
Personen, kommen und gehen. Die Leute spornen ihre Reittiere an, und die
Fußgänger gehen eilig, denn es ist kalt.
Die Luft ist rein
und trocken und der Himmel heiter, aber alles hat die scharfen Umrisse der
kalten Wintertage. Die abgeernteten und nackten Felder erscheinen größer in ihrer
Ausdehnung, und die Weiden haben nur ein kurzes, von den Winterstürmen
ausgetrocknetes Gras. Auf diesen Weiden suchen die Schafe ein wenig Nahrung
sowie die Sonne langsam aufgeht. Sie drängen sich aneinander, denn auch sie
spüren die Kälte. Sie blöken und erheben die Mäuler und Blicke zur Sonne, als
wollten sie sagen: «Komm schnell, denn es ist kalt!» Der Boden ist wellig, und
die Wellen treten immer deutlicher hervor. Eine richtige Hügellandschaft mit
grasigen Mulden und Abhängen, Tälern und Bergrücken. Die Straße geht
mittendurch, Richtung Südost.
Maria sitzt auf
einem grauen Esel, ganz eingewickelt in einen schweren Mantel. Vor dem Sattel
ist die Truhe befestigt, die ich schon auf der Reise nach Hebron gesehen habe,
und auf dieser befindet sich ein Kästchen mit den notwendigsten Dingen.
Joseph geht an der
Seite und hält die Zügel. «Bist du müde?» fragt er von Zeit zu Zeit.
Maria schaut ihn
lächelnd an und antwortet: «Nein.» Nach dem dritten Mal fügt sie hinzu: «Du
wirst müde sein, da du zu Fuß gehst.»
«Oh, ich! Das
macht mir nichts aus. Ich denke, wenn ich noch einen zweiten Esel gefunden
hätte, hättest du es bequemer gehabt, und wir kämen schneller vorwärts. Aber
ich habe keinen mehr gefunden. Alle brauchen jetzt die Reittiere. Aber Mut!
Bald sind wir in Bethlehem. Hinter jenem Berg ist Ephrata.»
Sie schweigen.
Wenn die Jungfrau schweigt, scheint sie sich zum inneren Gebet zu sammeln. In
ihre Gedanken versunken, lächelt sie sanft. Sie blickt auf die Menge; doch
scheint sie nicht Männer und Frauen, Alte und Hirten, Reiche und Arme zu
unterscheiden; sie sieht das, was nur sie sehen kann.
«Hast du kalt?»
fragt Joseph; denn es hat sich ein Wind erhoben.
«Nein, danke.»
Aber Joseph glaubt
ihr nicht. Er betastet ihre mit Sandalen bekleideten Füße, die seitlich des
Eselchens herabhängen und die man kaum unter dem langen Gewand hervorragen
sieht. Sie müssen sich wohl kalt anfühlen, denn er schüttelt den Kopf und nimmt
eine Decke, die er sich umgehängt hatte, und wickelt sie um die Beine Marias;
er zieht sie auch über den Schoß, so daß die Hände unter Decke und Mantel gut
warm bleiben.
Sie begegnen einem
Hirten, der mit seiner Herde die Straße überquert, um von einer Weide auf der
rechten Seite zu einer auf der linken zu gelangen. Joseph wendet sich ihm zu, um
ihm etwas zu sagen. Der Hirte nickt. Joseph nimmt den Esel an den Zügeln und
zieht ihn hinter der Herde auf die Weide. Der Hirte holt einen einfachen Napf
aus der Tasche, melkt ein großes Schaf mit vollem Euter und gibt den Napf
Joseph, der ihn Maria anbietet.
«Gott segne euch
beide!» sagt Maria. «Dich für deine Liebe und dich für deine Güte. Ich werde
für dich beten.»
«Kommt ihr von
weit her?»
«Von Nazareth»,
antwortet Joseph.
«Und wohin geht
es?»
«Nach Bethlehem.»
«Eine weite Reise
für eine Frau in diesem Zustand. Ist es deine Frau?»
«Es ist meine
Frau.»
«Habt ihr
jemanden, der euch Unterkunft geben wird?»
«Nein.»
«Schlimme Sache!
Bethlehem ist voller Menschen, die von überall her gekommen sind, um sich
einschreiben zu lassen, oder auf der Durchreise sind. Ich weiß nicht, ob ihr
eine Unterkunft finden werdet. Kennst du den Ort?»
«Nicht besonders.»
«Nun... ich werde
dir etwas sagen... um ihretwillen (er zeigt auf Maria). Sucht die Herberge!
Alles wird besetzt sein. Aber ich sage es euch, damit ihr einen Anhaltspunkt
habt: Dort ist ein großer Platz, der größte. Man gelangt auf dieser Landstraße
zu ihm. Ihr könnt nicht fehl gehen. Vor der Herberge ist ein Brunnen. Sie ist
groß und niedrig, mit einem großen Eingangstor. Sie wird voll sein. Wenn ihr
aber in der Herberge und in den Häusern keinen Platz findet, dann geht hinter
der Herberge den Feldern zu. Dort sind Ställe im Berg, die den Händlern auf dem
Weg nach Jerusalern manchmal dazu dienen, ihre Tiere einzustellen, wenn für
diese in der Herberge kein Platz mehr ist. Sie sind feucht und kalt und ohne
Türen. Aber sie sind immerhin eine Zuflucht; denn die Frau... darf nicht auf
der Straße bleiben. Vielleicht findet ihr dort einen Platz... und Heu zum
Schlafen und für den Esel. Gott möge euch begleiten!»
«Und Gott schenke
dir Freude!» erwidert Maria. Joseph hingegen sagt: «Der Friede sei mit dir!»
Sie machen sich
wieder auf den Weg. Vom Hügel aus, den sie gerade erstiegen haben, sieht man
eine breitere Mulde. In der Mulde und an den sanften Abhängen liegen überall
Häuser. Das ist Bethlehem.
«Sieh, nun sind
wir in der Heimat Davids, Maria. Jetzt wirst du ausruhen können. Du scheinst
sehr müde zu sein.»
«Nein, ich
dachte... ich denke...» Maria ergreift die Hand Josephs und sagt mit einem
seligen Lächeln: «Ich denke, daß gerade jetzt die Zeit gekommen ist.»
«Gott der
Barmherzigkeit! Was machen wir?»
«Habe keine Angst,
Joseph! Sei geduldig! Siehst du, wie ruhig ich bin?»
«Aber du leidest
doch wohl sehr.»
«O nein! Ich bin voller
Freude. Eine Freude, so groß, so stark, so schön und unfaßbar, daß mein Herz
ganz laut schlägt und zu mir sagt: "Er kommt! Er kommt!" Es sagt dies
bei jedem Schlag. Es ist mein Kind, das an mein Herz pocht und spricht: "Mama,
ich bin hier und komme, dir den Kuß Gottes zu geben." Oh, welch eine
Freude, mein Joseph!»
Aber Joseph ist
nicht so freudetrunken. Er denkt an die Dringlichkeit, eine Unterkunft zu
finden, und beschleunigt seine Schritte. An jeder Tür fragt er. Alles besetzt.
Sie kommen zur Herberge. Diese ist überfüllt bis unter die primitiven
Säulengänge, die den großen Innenhof umgeben. Alles voller Leute, die
biwakieren.
Joseph läßt Maria
auf dem Esel drinnen im Hof zurück und geht, um in anderen Häusern zu suchen.
Entmutigt kehrt er zurück. Es ist nichts zu finden. Die schnelle winterliche
Dämmerung beginnt ihre Schleier auszubreiten. Joseph fleht den Gastwirt an. Er
bittet Reisende. Sie sind kräftige und gesunde Männer, und dort ist eine Frau
unmittelbar vor der Geburt eines Kindes. Sie sollen doch Mitleid haben. Nichts.
Da ist ein reicher Pharisäer, der mit ganz offenkundiger Verachtung auf sie
schaut; und als Maria sich ihm nähert, schüttelt er sich, als ob sie eine
Aussätzige wäre. Joseph beobachtet ihn, und die Röte des Zorns steigt ihm ins
Gesicht. Maria legt ihre Hand auf sein Handgelenk, um ihn zu beruhigen, und
sagt: «Bestehe nicht weiter darauf! Laß uns gehen! Gott wird schon sorgen.»
Sie gehen hinaus
und folgen der Mauer der Herberge. Dann biegen sie in eine Gasse ein, die
zwischen der Herberge und armseligen Häusern liegt. Sie gehen hinter der
Herberge weiter und suchen. Sieh, da finden sie eine Art Grotten; eher Keller
als Ställe, so tief gelegen und feucht sind sie. Die schönsten sind bereits
belegt. Joseph wird mutlos.
«Heh, Galiläer!»
ruft ihm ein alter Mann zu. «Dort hinten, unter jener Ruine, dort ist eine
Höhle. Vielleicht ist noch keiner darin.»
Sie eilen hin. Es
ist wirklich eine Höhle. Zwischen den Resten eines zur Ruine gewordenen
Gebäudes ist ein Durchgang. Er führt in eine Grotte, die mehr einem Keller im
Berg als einer Grotte gleicht. Man könnte sagen, es seien die Fundamente des
alten Bauwerks, dem als Dach die Trümmer, gestützt von kaum bearbeiteten
Baumstämmen, dienen.
Um besser sehen zu
können – denn es ist schon beinahe dunkel – nimmt Joseph Zunder und Feuerstein
und zündet eine kleine Laterne an, die er aus dem umhängenden Rucksack
hervorholt. Er tritt ein und wird mit einem Muhen begrüßt. «Komm, Maria! Sie
ist frei. Nur ein Ochse ist da.» Joseph lächelt. «Besser als nichts.»
Maria steigt vom
Esel und tritt ein.
Joseph hat die
Laterne an einen Nagel gehängt, welcher in einen der Stützpfeiler geschlagen
worden ist. Am Gewölbe sind viele Spinngewebe sichtbar, und der Boden aus
festgestampfter Erde ist sehr uneben, voller Löcher, Steine, Abfälle und
Schmutz und mit Stroh bedeckt. Im Hintergrund wendet sich der Ochse um und
schaut mit seinen ruhigen Augen auf sie; aus seinem Maul hängt Heu. Es befinden
sich noch ein plumper Schemel und zwei Steine in einer Ecke bei einer Mauerspalte.
Der Ruß in diesem Winkel zeigt, daß sich hier eine Feuerstelle befindet.
Maria nähert sich
dem Ochsen. Es ist kalt. Sie legt ihre Hände auf seinen Hals, um sie zu
erwärmen. Der Ochse muht und läßt geschehen, als verstände er. Auch als Joseph
ihn fortdrängt, um viel Heu in die Krippe zu schütten und Maria ein Lager
herzurichten, wehrt er sich nicht. Die Krippe besteht aus zwei Teilen: aus dem
einen frißt der Ochs, und der andere, darüber, ist eine Art Gestell, in dem
sich der Heuvorrat befindet. Diesen letzteren nimmt Joseph. Der Ochse macht
selbst dem Esel Platz, der müde und hungrig gleich zu fressen beginnt. Joseph
entdeckt auch einen umgekehrten, ganz verbeulten Eimer. Er geht hinaus, denn
draußen hat er ein Bächlein gesehen, und kehrt mit Wasser für den Esel zurück.
Dann nimmt er ein Bündel belaubter Zweige und versucht damit, ein wenig den
Boden zu reinigen. Hierauf breitet er das Heu aus und macht nahe beim Ochsen an
einer trockenen und geschützten Stelle ein Lager. Aber er merkt, daß es feucht
ist, dieses elende Heu... Joseph seufzt. Er zündet ein Feuer an und trocknet
mit einer Engelsgeduld bündelweise das Heu, indem er es der Wärme entgegenhält.
Maria, die müde
auf dem Schemel sitzt, schaut zu und lächelt. Nun ist das Lager bereit. Maria macht
es sich auf dem weichen Heu bequem; sie lehnt den Rücken an einen Baumstamm.
Joseph vervollständigt... die Einrichtung, indem er seinen Mantel wie einen
Vorhang vor die Öffnung hängt. Ein sehr dürftiger Schutz. Dann bietet er der
Jungfrau Brot und Käse an und reicht ihr Wasser aus einer Feldflasche. «Schlafe
jetzt!» sagt er. «Ich werde wachen, damit das Feuer nicht erlischt. Zum Glück
gibt es hier Holz. Hoffen wir, daß es reicht und gut brennt! So werde ich das
Öl für die Lampe sparen können.»
Maria legt sich
gehorsam hin, und Joseph bedeckt sie mit ihrem Mantel und mit der Decke, in die
vorher ihre Füße eingewickelt waren.
«Aber du... wirst
kalt haben.»
«Nein, Maria, ich
bleibe beim Feuer. Versuche, dich auszuruhen. Morgen wird es besser gehen.»
Maria schließt die
Augen, ohne weiter darauf zu bestehen. Joseph zieht sich in seinen Winkel
zurück und setzt sich auf den Schemel neben die dürren Zweige. Es sind nur
wenige. Sie werden wohl nicht lange reichen können.
Die Lage ist die
folgende: Maria befindet sich zur Rechten, mit dem Rücken gegen den Eingang und
halb verdeckt vom Pfosten und vom Ochsen, der sich niedergelegt hat. Joseph ist
zur Linken und schräg zur Tür, mit dem Gesicht zum Feuer und dem Rücken zu
Maria. Er wendet sich allerdings bisweilen um, um nach ihr zu schauen, und er
sieht, daß sie ruhig liegt, als ob sie schliefe. Er zerbricht leise seine
Zweiglein und wirft sie eines nach dem anderen ins Feuerchen, damit es nicht
erlösche, Licht spende und das wenige Holz ausreiche. Die Lampe ist ausgelöscht
worden, und im Halbdunkel stechen nur die Helle des Ochsen und das Gesicht und
die Hände Josephs hervor. Der Rest versinkt im grauen Halbdunkel und ist nicht
mehr zu unterscheiden.